Mit Besetzern der Hafenstraße einen Kompromiss schließen oder Häuser räumen? Im Mai 1988 drohte diese Frage die Stadt zu zerreißen.

Hamburg. Wer zu jener Zeit deutscher Teilung als Zugewanderter in Hamburg lebt, dem kommt die zweitgrößte Metropole vor wie eine Welt ohne Grenzen. Alles, was hier geschieht, ist von lokaler Bedeutung und nicht gleich weltbewegend. Es gibt für diese Stadt keine Bedrohung von draußen, nichts Schicksalhaftes und nichts Existenzgefährdendes. Daran muss ich mich anfangs erst gewöhnen nach meinem Weggang aus Berlin. Die Normalität und Seriosität beherrschen ihre Einwohner, als wären diese beiden Grundelemente in einem Verhaltenskodex niedergeschrieben.

Nun ist es aber so, dass wir in einer Zeit leben, in der auch diese Stadt nicht unantastbar sein kann gegenüber allen Einflüssen und Entwicklungen. Das Synonym für diese Erfahrung ist die "Hafenstraße", die in West-Deutschland der Achtzigerjahre zum Inbegriff des Widerstandes sowohl gegen den Staat als auch für einen rechtsfreien Raum wird, in dem "Besitz" verachtet wird und gewaltsame "Besitznahme" das Ziel ist. Die bürgerliche Welt am Elbestrom ist schockiert. Die "Antis" leben in zehn aneinanderliegenden und heruntergekommenen Häusern, beschießen die Polizei mit Katapulten.

In der Auseinandersetzung um die Hafenstraße fällt oft das Wort vom alternativen Wohnprojekt, in dem die Bewohner linker Denkart ihre neue Freiheit ausleben können. Welche neue Freiheit aber? Die schrankenlose, die in Gewalt ausartet?

Ein Staat, der den verfassten Auftrag hat, Würde und Leben des Menschen zu schützen, hat nicht nur das Recht, gegen die Gewalt vorzugehen, sondern auch die Pflicht, den Menschen vor sich selbst zu schützen. Vor dieser Situation steht die Stadt Hamburg in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre. Ihre Ankündigung, sie werde die Häuser in der Hafenstraße räumen, soll als ein Signal der letzten Konsequenz zu verstehen sein und zugleich als ein letzter Versuch, die Gegenseite doch noch davon zu überzeugen, dass es aussichtslos ist, inmitten eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens eine rechtsfreie Enklave schaffen zu wollen. Ein besonnen handelnder Staat muss kein schwacher Staat sein.

In der Zeitung, in der ich arbeite, dem Hamburger Abendblatt, erscheint ein großer Artikel über die Zustände des Viertels am Hafen mit der Überschrift "Ein buntes Bild voll Horror". In Schillers "Jungfrau von Orleans" heißt es: "Nichts von Verträgen! Nichts von Übergabe! Ach! Es geschehen keine Wunder mehr."

+++ Aufregende Zeiten +++

Vielleicht doch! Spätestens seit Klaus von Dohnanyi soll der Glaube an ein Wunder als politisches Kalkül nicht mehr belächelt werden. Ein Vertrag mit der Hafenstraße ist möglich, die Übergabe eines staatsautoritätsfreien Gebietes im Wirkungsbereich von Zwille und Stahlkugel zeichnet sich ab, eine Wende, an die kaum einer in dieser Stadt mehr glaubt, bis auf einen, nämlich der Bürgermeister. Soll es seiner Beharrlichkeit zu verdanken sein, dass die Hamburger Krise ohne Blutvergießen bereinigt wird, könnte er am Ende als strahlender Sieger über allen stehen, die kleinmütig und bar jeder Vision ihn diesen Weg haben allein gehen lassen.

Denn das muss in diesen Tagen doch klar gesehen werden: Nur Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) und der SPD-Parteirat in Bonn stärken Klaus von Dohnanyi politisch und moralisch noch den Rücken. Alle anderen wollen seiner Politik der Ultimaten nicht mehr folgen, beschuldigen ihn unter der Hand der Phantasterei und zählen schon seine Tage im Amtszimmer des Rathauses. Diese, seine politische Krise, hat Dohnanyi allerdings noch lange nicht ausgestanden. Nicht minder zertrümmert wie das Gelände der Hafenstraße nämlich ist die politische Landschaft in Hamburg.

Ob die Aufräumungsarbeiten hier so schnell zu bewerkstelligen sind wie unten am Hafenrand, ist zweifelhaft. Da hocken die meisten schon in den Schützengräben mit festgezurrtem Helm und beobachten kopfschüttelnd die einsame Friedensmission ihres Anführers auf offenem Felde. Wie zum Beispiel will Dohnanyis Koalitionspartner FDP vor sich selbst und anderen plausibel erklären, dass er, ausgerechnet in den entscheidenden Stunden, den Bündnispartner in Stich ließ, eine Vertragslösung mit den Hafenstraßen-Bewohnern für nicht mehr möglich erklärt, nun aber wahrscheinlich in die Verlegenheit kommt, doch noch den Stift zur Unterschrift zücken zu müssen?

Wie und wann werden die Gegner derselben Couleur, SPD-Senatoren und ihr Bürgermeister, wieder aufeinander zugehen? Die gemeinsam veröffentlichte Erklärung von Klaus von Dohnanyi und seinem Innensenator Volker Lange deutet schon erste Bewegung an. In den turbulenten Stunden nach dem letzten Dohnanyi-Ultimatum wird ein Papier aus der Chefetage der Innenverwaltung bekannt, das in einer Mischung aus Fakten und polizeilicher Einschätzung zu dem summarischen Schluss kommt: "Den Hafenstraßenbewohnern geht es nicht darum, ein alternatives Wohnmodell zu verwirklichen. Es geht um die Aufrechterhaltung des Symbols Hafenstraße als staatsfreier Teil der militant kämpfenden Linken." Also nicht vertragsfähig! Diese Einschätzung teilt der Bürgermeister nicht. Weiß er es besser?

Die Vehemenz, mit der er seinen Weg verfolgt, ist schon bewundernswert, aber auch riskant. Er hat der Hafenstraße sein politisches Wort verpfändet und sein Amt als Bürgermeister in die Waagschale geworfen. Dohnanyi hat sich damit einer Entwicklung ausgeliefert, die er nicht kalkulieren kann. Sollte das Projekt doch noch scheitern, dann stünde er in der Tat zur Disposition. Von einem außergewöhnlichen Mann, wie es Hamburgs Bürgermeister Klaus von Dohnanyi ist, können die Hamburger gewöhnliche Erklärungen nicht erwarten. Und schon gar nicht in der Stunde seiner Rücktrittsankündigung am 10. Mai 1988.

Es ist nicht allein die Demission zu diesem Zeitpunkt, die viele verblüfft, mehr noch überrascht Dohnanyis Begründung, nicht wegen der anhaltenden Spannungen um die Hafenstraße aus dem Amt zu scheiden, die er mit friedlichen Mitteln beilegen wollte. Was also ist es denn? Am 10. Mai 1988 zur Mittagsstunde finden sich im Hamburger Rathaus die Senatoren von SPD und FDP zu einer Routinesitzung zusammen. Als die Sitzung endet, bittet Dohnanyi noch einmal ums Wort. Er teilt seiner Mannschaft mit, 20 Jahre Politik seien genug, nun wolle er zurücktreten. Die Anwesenden erstarren.

Dieser Mann hat den Dienst nicht quittiert, weil er unfähig ist, eine große und bedeutende Stadt zu führen. Im Gegenteil. Er besitzt alle Qualitäten, und die, die ihn kennen, kreiden ihm höchstens an, dass er in seine Fähigkeiten ein wenig zu sehr verliebt ist. Deshalb stößt er auch schneller als mancher seiner Vorgänger an die Grenzen der hanseatischen Verfassung, die dem Ersten Bürgermeister die Richtlinienkompetenz vorenthält. Es ist im Nachhinein gemutmaßt worden, die verloren gegangene Regierungslust sei nur von ihm vorgetäuscht worden, in Wahrheit habe Klaus von Dohnanyi kapituliert, weil er das Wunder - einen Friedensvertrag mit den gewalttätigen Häuserbesetzern - nicht vollenden konnte. Ein Bürgermeister müsste von Sinnen sein, träte er wegen solcher Vorgänge zurück!

Die Wirkung, die von den Zuständen einer Häuserzeile ausstrahlt, hätte längst auf ein bescheideneres Maß zurückgeführt werden müssen, handelt es sich doch lediglich um ein großstädtisches Randproblem. Die Zeit wird auch über die Hafenstraße hinweggehen, so wie auch die Stimmen derer verstummen, die in jenen hitzigen Krawalltagen das seidene Sakko mit dem Parka tauschen, medienwirksam vor die Barrikaden ziehen und für die alternative Wohn-Idee das Wort ergreifen. Was ist aus dem Engagement der Hamburger Kulturschickeria, der Filmemacher, der Intendanten, der Schauspieler und der Literaten geworden? Ist die Hafenstraße etwa nicht mehr schick?

Klaus von Dohnanyi hätte die Krawallszene am Hafen räumen lassen können. Seine Senatoren hätten genickt. Doch er tat und tut es nicht, weil er Gewalt gegen Minoritäten, auch wenn sie noch so unbequem sind, verabscheut. Dohnanyi ist ein Idealist, dessen Visionen für Hamburg nur schwer in Einklang mit den Realitäten Finanznot, politisches und geistiges Mittelmaß zu bringen sind. Man kann es schon verstehen, dass ein Mann wie er die Lust verliert, wenn er im Senat etwa ernsthaft über das Für und Wider öffentlicher Toiletten streiten muss.

Dohnanyis Hinterlassenschaft muss nun der Sohn eines einst bekannten Hamburger Volksschauspielers übernehmen: Henning Voscherau, Sozialdemokrat, Jurist und Notar. Er muss die unerledigte Erblast Hafenstraße übernehmen. Inzwischen hat mich der Vorstand des Springer-Verlages zum Chefredakteur des Hamburger Abendblattes ernannt. Eines Abends ruft mich Henning Voscherau in der Redaktion an und lädt mich für den nächsten Vormittag zu einer Tasse Kaffee ein: "Wir müssen mal über die Hafenstraße reden. Das geht nun seit Jahren schon seinen gewaltsamen Lauf, und diese Szene muss endlich vom Tisch!"

Das Treffen unter vier Augen eröffnet der Erste Bürgermeister mit einem überraschenden Vorschlag, von dem noch keiner in der Stadt Kenntnis hat. Er möchte den Bewohnern und mit ihnen den Besetzern einen Vorschlag machen: Wenn die seit langem geplante Bebauung einer Straßenlücke am umstrittenen Hafenrand frei von Gewalt seitens der etwa einhundert Bewohner bleibt, könnte am Ende auf die Räumung der Häuser verzichtet werden.

Voscherau möchte eine Neugestaltung des Hafenrands, die die besetzten Gebäude einbezieht. Es sollen Sozialwohnungen gebaut werden, die Schule soll erweitert, eine Kindertagesbetreuung eingerichtet werden. Voscherau hofft, mit seinem Plan eine Mehrheit in der Hamburger Bürgerschaft zu finden. Sein Vorgänger Klaus von Dohnanyi habe das Ziel einer rechtsstaatlichen Normalität offenkundig nicht erreicht. Voscherau: "Wenn die Bewohner der umkämpften Hafenstraße mit dem Wahrheitsbeweis antreten, es ist ihnen ernst mit Gewaltverzicht und selbstbestimmtem Leben in guter Nachbarschaft und neuer Friedlichkeit, dann wäre ich der erste, der sich verpflichtet fühlte zu erklären: Mein Ziel und dasjenige hunderttausender Hamburger ist erreicht. Dann sind die Bewohner selbst ihres Glückes Schmied."

Das Gespräch erscheint am darauffolgenden Tag im Hamburger Abendblatt mit dem Tenor einer letzten Chance, den Unruheherd einzudämmen. Und tatsächlich wird es der Anfang einer Entspannung auf einem kleinen Flecken der Hansestadt, auf dem in vielen Jahren so viel Blut geflossen ist. Sage und schreibe vierzehn Jahre waren die Häuser zwischen Staat und Chaoten aus der ganzen Republik umkämpft.