Blankenese. Die Erfahrung spricht für ihn. Und die makellose Fehlerquote auch. 43 Jahre lang fährt Peter F. mittlerweile Auto. "Und nie ist etwas passiert." Der Mann sagt dies mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Und doch schwingt auch ein wenig Nervosität mit. Denn seine bislang in Verkehrsangelegenheiten blütenweiße Weste könnte einen unschönen Fleck bekommen.

Ist es möglich, dass die jahrzehntelange Erfahrung zur Routine und die Routine schließlich zur Nachlässigkeit geführt hat? Dass der 63-Jährige wegen mangelnder Aufmerksamkeit einen Fehler beging und so fahrlässig die Verletzung einer anderen Verkehrsteilnehmerin verursacht hat? Dabei gab es zwischen ihm und der Frau, die sich schließlich ihren Oberschenkelhals brach, noch nicht einmal den Hauch einer Berührung. Gleichwohl soll der Hamburger laut Anklage im Prozess vor dem Amtsericht die Verletzung verschuldet haben, indem er sich an einem Sommertag des vergangenen Jahres mit seinem Transporter nicht ausreichend vorsichtig an eine Osdorfer Kreuzung herangetastet hat. Die Frau, die entgegen der Fahrtrichtung unterwegs war, musste demnach heftig bremsen, fiel hin und brach sich beim Sturz das Bein.

Fast täglich fährt Peter F. aus dem Hamburger Nordosten in die Elbvororte, um dort für seine Firma Waren auszuliefern. Und die besagte Kreuzung ist tückisch, das weiß der Mann. Gerade deshalb sei er stets mit höchster Aufmerksamkeit unterwegs, sagt der schlanke grauhaarige Mann. "Da ist ein Stoppschild und ein Haltebalken, von da aus sehe ich den von links fließenden Verkehr", erzählt der Handwerker. "Aber um Einsicht in den Gegenverkehr zu bekommen, muss ich mich langsam vortasten, denn eine Hecke behindert die Sicht." So habe er es auch an jenem Tag gehalten, als plötzlich eine Radfahrerin mit diversen Einkaufstüten am Lenker und ein weiterer Radler in sein Blickfeld gekommen seien. "Sie rasten mit ziemlichem Tempo heran. Die Frau hat so hart gebremst, dass sie zu Fall kam." Ein Gutachten der gegnerischen Versicherung, das der Verteidiger einreicht, gibt dem Angeklagten recht. Danach sei die Sicht in die Kreuzung "nicht ausreichend, wenn sich ein Radfahrer verbotswidrig von rechts" nähere, heißt es dort. Zudem sei die Radfahrerin "nicht vorausschauend genug und nicht ihrem fahrerischen Können angepasst gefahren".

Doch Gabriela S. hält sich selber für eine "geübte Radfahrerin. Ich fahre jeden Tag, das ist eine kleine Sucht", sagt die 57-Jährige. Sie sei an jenem Tag mit ihrem Sohn unterwegs gewesen. "Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass ich so stark gebremst habe, dass ich weggerutscht bin und hinfiel." Ihr sei schon bewusst, dass sie auf der falschen Seite unterwegs war, räumt Gabriela S. mit etwas Trotz in der Stimme ein. "Ich war zu faul, und so war es mein direkter Weg." Schwer beladen sei ihr Fahrrad jedoch nicht gewesen. Sie sei zwar vom "Shoppen gekommen. Aber ich kann auch einkaufen, ohne was einzukaufen", formuliert die Hamburgerin. Die Folgen ihres Unfalls beeinträchtigen sie bis heute: Auch mehr als ein Dreivierteljahr danach sei sie noch krankgeschrieben und ziehe das Bein nach.

Doch auch ihr Sohn, mit dem sie unterwegs war, kann nicht sicher sagen, in welchem Tempo sich Transporterfahrer Peter F. der Kreuzung genähert hat. "Ich sah plötzlich den Wagen und habe gebremst. Meine Mutter rutschte und lag dann auf der Straße", erzählt der 39-Jährige. Er kenne die Kreuzung gut und wisse, dass "sie problematisch ist zum Gucken", ergänzt er. "Mein Bruder ist da früher auch mal verunglückt."

Nach diesen Aussagen beantragt die Staatsanwältin Freispruch. Es sei nicht nachzuweisen, dass Autofahrer Peter F. "sorgfaltswidrig gehandelt" habe. "Der Bereich ist sehr schwer einzusehen", die Radfahrerin habe möglicherweise zu spät gebremst. Auch der Richter erkennt auf Freispruch. Er gehe davon aus, dass sich der Angeklagte "vorsichtig an die Kreuzung herangetastet hat", begründet er das Urteil. Es sei an dieser unübersichtlichen Straße "eine besondere Sorgfalt" von allen Verkehrsbeteiligten gefordert. "Vor allem, wenn ihnen bewusst ist, dass sie auf der falschen Seite fahren", betont der Richter. Es sei "bedauerlich", dass die Radfahrerin so schwere Verletzungen davongetragen habe, aber den Angeklagten treffe keine Schuld. Er habe trotzdem Konsequenzen gezogen, betont Peter F. eifrig. "Ich bin da jetzt noch vorsichtiger als früher." Der Richter ist mit dieser Einstellung zufrieden. Er könne sich vorstellen, sagt er noch, dass es jetzt weitere gewisse Verkehrsteilnehmer gebe, "die da jetzt auch noch aufmerksamer sind".