Die kleine Firma Raap aus Harburg hat sich in einem Nischenmarkt einen Namen gemacht. Die Aufträge kommen sogar aus Kalifornien.

Harburg. Als Mike Kailuweit die Mail im September 2011 in seinem elektronischen Postfach findet, traut er seinen Augen kaum. Eine Waldorfschule im kalifornischen Santa Rosa interessiert sich für ein Zirkuszelt aus Harburg, kann das wirklich wahr sein? Die Anfrage der Summerfield-School erweist sich als echt. Vier Monate und eine Dienstreise später, steht das Chapiteau im sonnigen Westen der USA. Und die kleine Firma Raap Planen und Zelte aus dem Harburger Binnenhafen hat geschäftlich den Sprung über den großen Teich geschafft.

"Das ist schon eine kuriose Geschichte", sagt Raap-Geschäftsführer Kailuweit, und schüttelt noch immer halb ungläubig, halb belustigt den Kopf: "Dass die Welt durch das World Wide Web jetzt viel besser vernetzt ist, leuchtet mir schon ein. Aber dass man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf der Suche nach einem Chapiteau ausgerechnet in Harburg landet, finde ich schon bemerkenswert." Für ihn ist die Mail aus Übersee indes beredter Beleg dafür, dass sich Qualität eben herumspricht. Und durchsetzt, sitzt der Produzent auch noch so weit entfernt.

Selbst im vergleichsweise beschaulichen Harburg wirkt der Firmensitz am Kanalplatz wie aus der Zeit gefallen. Während ringsum im sogenannten Channel Harburg hochmoderne Bürogebäude in den Himmel wachsen, residiert das Familienunternehmen Raap in einem unspektakulären, zweistöckigen Hallenbau aus dem Jahr 1982. Wenn es nach Kailuweit geht, soll das auch noch eine Weile so bleiben.

Aus seinem kleinen Büro im Erdgeschoss kann der 50-Jährige durch große Scheiben in die etwa 450 Quadratmeter große Werkstatt sehen, wo die Raap-Produkte entstehen: Dächer für Hollywoodschaukeln, Planen für Industriebetriebe, Spannsegel für die Sonnendecks von Kreuzfahrtschiffen, vor allem aber Pagodenzelte in allen Größen. Kailuweit liebt es, nah dran zu sein am Produktionsprozess. Der beständige Austausch mit seinen Mitarbeitern ist ihm ebenso wichtig wie denen die kurzen Wege zum Chef.

Im ersten Stock sieht es kaum anders aus. Dort befindet sich die Segelmacherei, eröffnet 1938 von Firmengründer Johannes Raap, jetzt geleitet von Clemens Massel. "Doch nicht nur Segel aller Art sicherten der Firma von Beginn an ihr Auskommen. Schnell kamen, kriegsbedingt, auch Schutzbezüge für Kanonen und Rettungsboote sowie Lkw-Planen hinzu", weiß Jürgen Hertling-Raap, 69, Stiefsohn des Firmengründers. Mit der ersten Anfrage nach einem Zirkuszelt Anfang der 70er-Jahre hätte sich dann ein ganz neues Geschäftsfeld eröffnet. Das sich seitdem rasant entwickelt habe. Und dazu führt, dass das Unternehmen 1995 in zwei eigenständige Firmen getrennt wird.

"Unsere Fliegenden Bauten sind ein Renner", sagt Kailuweit, der die Sparte Planen und Zelte 2000 von seinem Schwiegervater Jürgen Hertling-Raap übernahm. Den Ansturm auf Großzelte erklärt sich Kailuweit mit den zuweilen restriktiven Bauvorschriften, wie sie nicht nur in Deutschland an der Tagesordnung sind: "Ein Zelt aber darfst du fast immer aufstellen. Wird es woanders gebraucht, kann man es wieder abbauen und umsetzen."

Einen weiteren Grund sieht Kailuweit im Kostenfaktor. Eine feste Halle koste fast immer mehrere Millionen Euro. Ein Zelt mit einer Grundfläche von rund 6500 Quadratmetern sei für vergleichsweise günstige 700 000 Euro zu haben. Noch hat Raap ein Projekt dieser Dimension nicht realisiert. Doch aktuell laufen Verhandlungen mit einem Interessenten aus Südafrika.

Die Zeiten, in denen nach Schablonen einfach große Dreiecke geschnitten und vernäht wurden, sind lange vorbei. "Seit unsere Kunden Pagodenzelte mit zwei und mehr Hauptmasten wünschen, sind die Anforderungen, vor allem an die Dachgestaltung, enorm gestiegen", sagt Kailuweit. Deshalb habe man vor drei Jahren für 60 000 Euro extra eine spezielle Software schreiben lassen, um die einzelnen Dachsegmente für jede denkbare Zeltgröße exakt berechnen zu können. Überdies wird für jeden neuen Entwurf ein Statiker engagiert. "Sicherheit ist das oberste Gebot. Schließlich lastet auf den Dächern durch Verspannung und Windlasten ein tonnenschwerer Druck. Die Zelte müssen auch bei Sturmböen bis zu Windstärke zehn noch sicher stehen", sagt Jürgen Hertling-Raap, der Kailuweit beratend zur Seite steht.

Auch sonst erfüllen die durchweg TÜV-geprüften Raap-Zelte, jedes ein Unikat, alle einschlägigen Sicherheitsstandards. Gefertigt werden sie aus schwer entflammbarem, polyesterbeschichtetem Gewebe, das die Harburger aus Frankreich und Krefeld beziehen. Geliefert wird die Haut in 100 Meter langen Bahnen auf zwei Meter breiten Rollen. Nach dem Zuschnitt werden die Einzelteile "hochfrequent verschweißt", weil sie mindestens 15 Jahre Temperaturen zwischen minus 30 und plus 70 Grad standhalten müssen. Nur die Nähte in den unteren Seitenbereichen werden noch klassisch mit der Nadel zusammengefügt.

Inzwischen fertigt die Firma Raap im Schnitt 60 Chapiteaus pro Jahr. Das Hamburger Thalia-Theater hat eins, das Phantasialand in Brühl, und natürlich verschiedene Zirkusunternehmen. Kunden in 18 Ländern werden beliefert, die Werkstatt ist faktisch ganzjährig ausgelastet. Kailuweit könnte noch viel mehr Aufträge annehmen. Doch das will er gar nicht.

Die Firma Raap ist der sehr lebendige Gegenentwurf zum allgemeinen Wachstumswahn der Wirtschaft. "Think big", dieser allgegenwärtige Slogan, ist Kailuweit fremd. Gemeinsam mit Segelmacher Massel beschäftigt er seit Jahren insgesamt 24 Mitarbeiter, darunter sechs Azubis. Wollten die beiden Geschäftsführer mehr Umsatz machen, bräuchten sie mehr Leute und damit größere Werkstattflächen. "Doch wozu?", fragt Mike Kailuweit. "Unsere Familien können von dem, was der Laden abwirft, gut leben und unsere Angestellten auch. Selbst in einer Krise würden wir relativ problemlos über die Runden kommen. Wächst die Firma, wachsen auch die Risiken. Das wollen wir nicht."

Dass das strategisch günstig gelegene Firmengrundstück im prosperierenden Harburger Binnenhafen Begehrlichkeiten bei Investoren weckt, ist der Raap-Doppelspitze durchaus bewusst. Doch Geld, Geschäfte und noch größere Gewinne sind am Kanalplatz 5 eben nicht alles.