Vor 21 Jahren kam Silvia Azzoni als Ballett-Schülerin aus Italien. Heute ist die 38-Jährige Erste Solistin im Hamburg Ballett von John Neumeier.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 35: Ballerina Silvia Azzoni. Sie bekam den roten Faden von Professor Reinhard Schneppenheim.

Bis in den fünften Monat hinein hat sie trainiert, viele Stunden am Tag. Pliés, die klassischen Kniebeugen des Balletts, Battements, die charakteristische Übung, bei der ein Bein gestreckt nach vorne, hinten oder zur Seite geworfen wird oder Rond de jambes, kreisende Bewegungen mit dem gestreckten Bein am Boden. Nur die Sprungsequenzen, die fester Bestandteil einer jeden klassischen Trainingseinheit sind, ließ Silvia Azzoni während ihrer Schwangerschaft aus. Silvia, die Tänzerin. Ansonsten führte sie weiterhin das körperlich extrem fordernde Leben einer Ersten Solistin im Hamburg Ballett. "Ich konnte gar nicht anders", sagt Azzoni schlicht. Damals, vor rund eineinhalb Jahren, war sie 37 Jahre alt und an einem Punkt, an dem sie sich entscheiden musste: für ein Leben mit oder ohne Kind. Sie und ihr Ehemann Alexandre Riabko, ein Ukrainer aus Kiew, der ebenfalls Erster Solist in John Neumeiers Ensemble ist, beschlossen, neben Tänzern auch Eltern zu werden. Heute ist ihr Schatz, die kleine Kira Abigail, knapp zehn Monate alt.

So weit die reinen Fakten eines echten Märchens, das sich in einer der weltweit renommiertesten Ballett-Compagnien zugetragen hat. Denn über Silvia Azzonis Leben - das Werden einer Italienerin aus Turin zur gefeierten Primaballerina - kann man einerseits so leicht und süß schreiben, wie Zuckerwatte schmeckt. Oder aber wie Gewürzgurken: ein bisschen bitter, sauer und knackig. Beides stimmt. Mit der Mischung kommt man der Wahrheit nahe, die die Tänzerin im Gespräch in der Kantine des Ballettzentrums in der Caspar-Voght-Straße offenbart.

Mit 17 Jahren kommt die blonde Hochbegabte in das Ballettinternat von John Neumeier, es ist das Jahr 1991. Zwei Jahre später wird sie als Einzige ihrer Klasse in die Compagnie aufgenommen. Schon 1996 ist sie Solistin, seit 2001 Erste Solistin und damit eine der besten Tänzerinnen der Compagnie. Bei anderen Ensembles heißt diese Position Primaballerina oder Étoile.

Bekannt und beliebt wird die zerbrechlich wirkende 1,58-Meter-Frau durch tragende Rollen in Neumeiers Stücken: Giselle in "Giselle", Julia in "Romeo und Julia", Odette und Prinzessin Claire in "Illusionen - wie Schwanensee", Marguerite und Manon in "Die Kameliendame". Den "Ballett-Oscar", wie der Preis "Benois de la Danse" genannt wird, gewinnt sie 2008 allerdings für ein Stück, das auf die klassischen Spitzenschuhe verzichtet, der Tänzerin dafür überlange Hosen aus wasserblauer Seide, einen "Fischschwanz", verpasst: für ihre Darstellung der Titelrolle als "Die kleine Meerjungfrau". Dafür wird ihr auch der Rolf-Mares-Preis der Hamburger Theater 2006/2007 in der Kategorie "Außergewöhnliche Leistungen" verliehen.

Azzoni ist ein Star, sie hat weit mehr als das erreicht, wovon die meisten Ballerinen träumen. Silvia, die Tänzerin. Vielleicht verzichtet Azzoni gerade deshalb auf divenhafte Allüren. Jeden Tag hat sie mindestens fünf Stunden lang Training und Kreationsproben. Als Erste Solistin tritt sie zusätzlich im Schnitt sechsmal pro Monat abends in der Oper auf. Dazu kommen Gastspiele und Tourneen. Um ein solches Pensum, vergleichbar dem Leistungssport, durchhalten zu können, braucht es neben immensem Können vor allem Willen und Disziplin. Und auch Glück, um überhaupt so weit zu kommen.

Glück nennt sie es zum Beispiel, ihrem Chefchoreografen und Ballettdirektor John Neumeier begegnet zu sein. "Er war für uns alle ein Punkt, zu dem wir aufgeschaut haben", sagt sie. "Jemand, der uns schon in der Schulzeit viel geholfen hat, unseren Weg und uns als Künstler zu finden. Durch seine Ballette bin ich auch Schauspielerin geworden." Azzoni spricht offen, mit lauter Stimme über ihr Leben. Ihre Arme ruhen fast nie dabei, immer muss sie etwas durch Handbewegungen verdeutlichen. Auch die Beinposition unter dem Tisch wechselt sie laufend - selbst im Sitzen tanzt sie ein wenig. Lacht, wenn sie Stuhlbein oder Bein des Gegenübers berührt. Zum Stillsitzen hat sie wahrlich kein Talent.

Und auch, wenn es Freitag Abend ist, sie bereits von 10 Uhr morgens bis 17.30 Uhr trainiert und geprobt hat und sich nach ihrer Tochter, privater Zeit mit ihrem Mann und ihrem Zuhause sehnt, ist sie konzentriert, fokussiert, fröhlich. Und diszipliniert. Disziplin ist die Grundlage ihres Seins, es ist ein ebenso wichtiger Bestandteil des Balletts wie Technik und Grazie.

Wenn man ihr gegenübersitzt, überrascht die zierliche, fast kindlich wirkende Frau, die man am liebsten beschützen möchte. Denn sobald sie anfängt zu sprechen, strahlt sie eine ungeheure Kraft und Energie aus. Hier wie auf der Bühne fasziniert sie ihre Betrachter mit einer einzigartigen Mischung aus Spannkraft, Anmut, Ausdruck und Gefühl. Potenziert, wenn sie mit ihrem Mann, den alle nur Sascha nennen, tanzt. Pas de deux von Liebenden der Ballettgeschichte. Wie die Duette der Kurtisane Marguerite und ihres Liebhabers Armand in Neumeiers "Die Kameliendame". "Im letzten Akt ist Marguerite schon ganz krank, sie geht zu Armand und will ein Abschieds-Pas-de-deux. Das ist dann ein ganz intimer Moment, sehr sentimental. Da habe ich für eine Sekunde 'puuuhh' gedacht, mich dann aber sofort wieder darauf besonnen, dass ich ja Marguerite bin, nicht Silvia", sagt sie.

Sie liebt es, mit ihrem Mann aufzutreten. Sie schöpft Kraft daraus, ihn auch bei der Arbeit zu sehen; es gibt kein Zuviel der gemeinsamen Zeit. "Wir sind so glücklich, wenn wir zusammen sind", sagt sie. Fast pausenlos arbeiten Tänzer, sehen ihren Beruf (natürlich) als Berufung und leben dafür fast ausschließlich in ihrer Ballett-Welt. Azzoni genießt das: "Wir atmen zusammen, wenn wir zusammen tanzen. Wir können dann eine Seele sein." Dafür wurde das Paar 2008 mit dem "Les Étoiles de Ballet 2000" ausgezeichnet.

Das private Glück begann 1997 bei den Proben von "Hamlet und Ophelia". Silvia und der fünf Jahre jüngere Sascha kamen beim Einstudieren kaum mehr aus dem Kichern heraus. Mit dem Heiraten ließen sie sich acht Jahre Zeit: Im Sommer 2005, natürlich in den Theaterferien, gaben sie sich zuerst in Hamburg, später in einer traditionell russisch-orthodoxen Zeremonie in Kiew das Jawort.

Doch auch, wenn sie ihren Traummann gefunden hat, reizt und fordert sie es, mit anderen männlichen Partnern zu tanzen. Es sei dann mehr ein Zusammenspiel - nein, sicher kein Schauspiel. Ihre Paraderolle in "Die kleine Meerjungfrau" gibt sie überragend mit ihrem Kollegen Carsten Jung. "Am 21. April tanzen wir wieder", sagt sie und strahlt dabei glücklich. Das Stück ist eine Wiederaufnahme, was ein immenses Kompliment für die Tänzer ist. Doch bevor es an die Proben geht, hat Silvia, die Tänzerin, immer Angst. "Ich denke dann: 'O mein Gott, das habe ich sicher noch nie gekonnt'", sagt sie und reckt ihre Arme ein wenig kokettierend gen Decke, um sie lachend fallen zu lassen. "Aber dann haben wir uns das Video zusammen angeschaut - wir können alles doch noch." Sie lacht befreit. "Diese Gefühle hatte ich auch in meiner Schwangerschaft, als ich pausiert habe und mir die Stücke auf der Bühne angesehen habe. Ich denke dann immer, 'das muss so schwierig sein, was die da machen, das kann ich nie'". Egal wie oft sie die Sequenzen schon selbst getanzt hat. Selbstzweifel, auch sie gehören zum Berufsbild. Und sie quälten Azzoni oft. Gerade nach Verletzungen, die Azzoni - wie fast jeden Tänzer - für unterschiedliche lange Zeit zum Pausieren zwangen. 1999 konnte sie ein ganzes Jahr lang wegen einer schweren Fußverletzung nicht tanzen. Sie litt und argwöhnte damals, ob sie je wieder auf ihr tänzerisches Höchstleistungsniveau zurückkehren könnte.

Ebenso war es nach ihrer Babypause. Unbedingt wollte sie schon früh wieder anfangen. Nach der Geburt gab sie sich zwei Wochen, bevor sie wieder im Ballettsaal stand. "Ich musste etwas machen", sagt sie. "Aber ich habe mich falsch in meinem Körper gefühlt. Die Muskeln hatten keinen Tonus mehr, die Sehen waren total gedehnt." Ihre Stimme verliert an Lautstärke und Kraft, wenn sie von der ersten Zeit spricht, die einerseits von der ausufernden Liebe zu ihrem Baby geprägt war, sie andererseits in Bezug auf ihren Beruf etwas hilflos zurück ließ. "Ich wollte sofort wieder so tanzen wie vorher, aber mein Körper wollte nicht", sagt sie. Die beruhigenden Worte ihres Mannes halfen. Er wusste schließlich, dass sie nach jeder Verletzung den Weg zurück gefunden hatte. Nur brauchte sie dieses Mal etwas mehr Zeit. Die Geduldigste ist sie wohl nicht? "Nein!"

Heute hat sie verstanden, dass der weibliche Körper neun Monate braucht, um wieder der Alte zu sein. "Jetzt ist es so, als hätte ich eine zweite Karriere gestartet", sagt sie. "Ich genieße jede Stunde beim Tanzen und fühle mich viel entspannter und ruhiger und bin offener für jedes Gefühl. Ich merke: Silvia, die Tänzerin, ist zurück."

Immer schon hätten sie und Sascha versucht, auch "ein normales Leben zu haben; sonst wird man verrückt". Deshalb gehen sie spazieren, wenn die Kraft noch ausreicht, besuchen Museen. "Ich lese unglaublich gerne Geschichten von meinem Lieblingsautor Tiziano Terzani oder wir gucken abends Serien wie Glee, Desperate Housewives und Two and a Half Men", verrät sie.

Sowohl Ehefrau, Ballerina als auch Mutter zu sein, bei Azzoni klappt es. Doch dafür braucht das Paar Eltern und Schwiegereltern, die abwechselnd wochenweise zu Besuch kommen und sich in der Harvestehuder Wohnung oder während der Gastspiele des Balletts um Kira kümmern. "Davor war ich 24 Stunden lang Tänzerin. Heute fühle ich abends zu Hause eine solche Liebe, die mich völlig erfüllt und mir wieder etwas für den Tanz gibt", sagt sie.

Ihre Mutterrolle macht Silvia, die Tänzerin, vielleicht noch besser.

Der rote Faden geht weiter an Remigio Poletto, Chef der Winebar im Eppendorfer Weg 287: "Er ist ein toller Gastgeber, und ich spüre jedes Mal dort beim Essen ein Stück italienische Heimat", sagt Silvia Azzoni.