Skeptiker kritisieren die Daten-Transparenz bei Facebook, dabei ist die Online-Sucht vieler Nutzer weitaus brisanter

Dieser erste Satz hat lange auf sich warten lassen. Die letzte Dreiviertelstunde ist im Netz verloren gegangen. Nur ein schneller Blick noch in die Mails sollte es sein. Die elektronische Post war schnell erledigt. Bis auf die Nachricht, dass ein Facebook-Freund meinen letzten Eintrag kommentiert habe. Ein Statement zu Wulffs Abtritt. Also noch mal kurz nachgucken, was der Absender zu sagen hat. Ein Mausklick, und schon bin ich weg. Abgetaucht in meine Parallelwelt.

Es geht so schnell. Und es passiert überall. Bei der Arbeit im Büro, an der Kasse im Supermarkt, im Auto an der roten Ampel, während eines langweiligen "Tatorts" und sogar im Bett. Ein Blick auf die Meinungen zu Wulff im Liegen, ein Kommentar zum Urlaubsfoto eines Freunds im Sitzen, ein "Gefällt mir" für den Link auf einen Artikel im Gehen. Der Klick auf Facebook ist die erste Handlung des Tages und er ist die letzte. Der Griff zum iPhone, der Verbindung zur Online-Welt, erfolgt alle paar Minuten. Reflexartig, wie ein Tick. Das Handy erscheint so unverzichtbar wie dem Süchtigen seine mit Rauschgift geladene Spritze. In gewisser Weise bin auch ich abhängig. Ein Facebook-Junkie - und damit gewiss nicht allein.

Die "Generation Analog", die groß geworden ist, als es noch keine Computer gab, steht Facebook im Speziellen und dem Internet im Allgemeinen skeptisch gegenüber. Die Daten-Transparenz ist ihr nicht geheuer. Der Branchendienst Meedia polemisierte bereits gegen diese "German Facebook-Angst".

Ohne sich über die Vorbehalte der Skeptiker belustigen zu wollen: Die grassierende Online-Sucht liefert stichhaltigere Gründe, sich Sorgen zu machen. Potenziell gefährdet: die mehr als 22 Millionen Deutschen, die ein Profil bei Facebook haben. Weltweit sind es schon rund 850 Millionen Nutzer.

Die Familie nervt das ewige Gefummel am Handy. Auch Freunde regen sich über die Ausflüge ins Netz auf: Bin ich online, sitze ich weiter mit am Tisch, die Aufmerksamkeit aber ist woanders. Mein Umgang mit digitalen Postfächern und Netzwerken ist mir selbst lästig. Die virtuelle Welt hält mich davon ab, mich mit der realen auseinanderzusetzen. So verliere ich nicht nur Zeit, wenn ich eigentlich einen Artikel schreiben will. Der Bildschirm-Blick beschränkt auch meine Sinneswahrnehmungen. Mehr oder weniger Wichtiges rauscht an mir vorbei. Dass Facebook am Steuer nicht ausdrücklich verboten ist, zeugt von dem Tempo, mit dem internetfähige Geräte und soziale Netze die Welt erobern. Da bleiben die Gesetzgeber auf der Strecke.

Wer in einem digitalen Netzwerk aktiv ist, macht einen Teil seines Lebens öffentlich. Ob die Öffentlichkeit ausgewählte Kontakte, der ganze Freundeskreis oder alle Nutzer sind, entscheidet er selbst. Das bereitet den wenigsten Probleme. Zu banal sind die meisten Informationen und Bilder, als dass jemand sie missbrauchen wollen würde. Und: Die freiwillige Offenheit der Masse ist zugleich ihr Wächter und Korrektiv. Wer sich nicht an die wenigen Regeln hält, wird abgeschaltet. Das ist der Unterschied zu Google. Suche ich dort den günstigsten Flug, werde ich wochenlang ungebeten mit Angeboten von Reiseportalen bombardiert. Bei Facebook hingegen will ich Reaktionen provozieren - je mehr, desto besser. Bleibe ich ruhig, passiert auch nichts.

Niemand klaut mir aus meinem digitalen Tagebuch Daten, die ich nicht selbst eingespeist habe. Aber: Neugier, Voyeurismus und der bloße Reiz am Austausch erzeugen den Drang zum Klicken, der aus Gelegenheits-Usern Internet-Abhängige macht. Der dauerhafte Online-Modus, in den immer mehr von uns geraten, ist der mächtige Feind traditioneller Kommunikation. Viele Facebook-Freunde sind sich im wahren Leben noch nie begegnet. Social Media ersetzt eben kein direktes Miteinander. In der Jugend meiner Generation tauchten Mitte der 80er die Heimcomputer auf. Bis zum Internet für zu Hause vergingen weitere zehn Jahre. Bis Facebook kam, sogar 20 Jahre. Einen Rechner offline zu nutzen war also lange Zeit ganz normal.

Auch, wenn's hart wird: Zeit, dass wir Online-Süchtigen uns ein Stück dieser Normalität zurückholen und wieder unmittelbar miteinander kommunizieren. Ich bin dann mal offline. Zumindest für ein paar Stunden am Tag.

Matthias Onken, 39, war Chefredakteur der "Hamburger Morgenpost" und Regionalchef von "Bild Hamburg". Heute arbeitet er als Autor und Moderator