Im Juni 2007 wird der damals 16-jährige Felix aus Tötensen Opfer eines Grillunfalls. Juristisches Tauziehen um Schuld und Entschädigung dauert an.

Übermütig tanzt ein gestandenes Mannsbild an Rande eines Fußballplatzes herum. An jedem Handgelenk baumeln Fanschals. Zum Schluss vollführt er eine Tanzeinlage, die jeder Disco-Queen zur Ehre gereichen würde. Der TV-Spot ist Teil einer aufwendigen Image-Kampagne der R+V-Versicherung. Die Botschaft: Bei Arbeit, Sport und Spiel - wir sind immer an Ihrer Seite, mit Herzblut und Weitsicht. "Bei uns zählt der Mensch und sein Wohl. Wir setzen uns ein: von Mensch zu Mensch." So steht es im aktuellen Markenbild des Unternehmens. Immer wenn Felix Junge diesen Werbespot sieht, raubt ihm die Wut fast den Atem. Oberkörper und Arme des 20-Jährigen sind übersät mit großflächigen Brandnarben. Die spannen und jucken zuweilen fürchterlich, etwa wenn er schwitzt. Das passiert regelmäßig, wenn der leidenschaftliche Fußballer für den SV Bendestorf (Landkreis Harburg) auf Torejagd geht. Doch er hat sich an diese unangenehmen Begleitumstände seines Sports gewöhnt. Denn er ist jeden Tag aufs Neue froh, dass er überhaupt noch Fußball spielen kann.

Der 14. Juni 2007 ist ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Es ist warm, die Sonne strahlt von einem wolkenlosen Himmel. Ein Tag, um das Leben zu genießen. Ein Tag, um Pläne zu schmieden, verrückt zu sein, sich zu verlieben. Für Felix ist es der Tag, der sein Leben für immer verändern wird.

Das Polizeikommissariat Seevetal/Hittfeld führt an jenem Tag eine Fußgänger-Rallye durch. Ausgangspunkt ist die Wache, Ziel das Domizil der Freiwilligen Feuerwehr Tötensen. Auf dem Weg dorthin müssen die etwa 60 Teilnehmer an mehreren Stationen verschiedene Aufgaben lösen. Zum Abschluss sollen am Feuerwehrhaus Tötensen Fleisch und Würste gegrillt werden. Organisiert hat die dienstliche Maßnahme Hubert Junge, 57, der Vater von Felix und selbst Polizist. Ortsbrandmeister Karsten Egler hat seine Unterstützung sofort zugesagt. Man kennt sich seit vielen Jahren, beruflich wie privat. Die Kinder sind auf dieselbe Schule gegangen, gemeinsam hat man sich im Schulverein engagiert. Und auch Felix will sich der Bitte des Vaters nicht verschließen, beim geselligen Ausklang mitzuhelfen.

Es ist kurz vor 13 Uhr, als der damals 16-Jährige am Feuerwehrhaus von Tötensen eintrifft. Dort hat Egler den Kettengrill schon angefeuert. Man ist leicht in Verzug, die erste Gruppe hat die Rallye bereits beendet. Aber die Glut will sich nicht recht entwickeln. So entscheidet der erfahrene Feuerwehrmann, mit einem Brandbeschleuniger nachzuhelfen. Ein fataler, folgenschwerer Entschluss.

Es ist exakt 13.31 Uhr, als Egler zur Spiritusflasche greift. Als er zudrückt, springt die Dosierkappe ab. Der herausschießende Schwall führt zu einer Stichflamme, die Felix erfasst, der nur einen knappen Meter vom Grill entfernt steht. Sein dünnes Poloshirt brennt sofort lichterloh, der Junge wird zur lebendigen Fackel. "Ich hörte entsetzte Schreie und es stank bestialisch nach verbranntem Fleisch. Dann haben sich zwei Leute auf mich geworfen, um mich zu löschen", schildert Felix die grausigen Augenblicke.

Als Vater Hubert am Tatort eintrifft, liegt sein Sohn stöhnend auf einer Bank. Durch den enormen Adrenalinschub ist er bei Bewusstsein. "Die Haut an der Brust hing in Fetzen herunter. Er sah furchtbar aus", sagt Hubert Junge. Wenig später landet der Rettungshubschrauber auf dem Sportplatz von Tötensen. Die Notärzte arbeiten schnell und professionell. "Ich habe meinem Vater noch gesagt, dass ich ihn sehr liebe, dann wurde es Nacht", erinnert sich Felix.

Drei Tage später kommt er im Hamburger Unfallkrankenhaus Boberg wieder zu sich. Die Diagnose des Ärzteteams im Zentrum für Brandverletzungen ist niederschmetternd: Fast ein Drittel seiner Hautoberfläche weist Verbrennungen zweiten und dritten Grades auf. Dr. Enno Striepling, der die Krankenakte Felix Junge kennt wie kein Zweiter: "Das waren in Ausdehnung und Tiefe schwerste Brandverletzungen, es bestand akute Lebensgefahr. Ein Rentner hätte größte Probleme gehabt, mit solch großflächigen Verbrennungen zu überleben." Es gebe da eine Faustformel: Lebensalter plus verbrannte Hautfläche in Prozent sollten deutlich unter 100 liegen.

Dabei hätte es für Felix noch weitaus schlimmer kommen können, sagt Striepling. "Er hatte viel Glück. Weil er lange Jeans trug, blieben die Beine verschont. Felix war jung, gesund und als Fußballer gut trainiert. Alles Faktoren, die auch für den Heilungsprozess wichtig waren."

Was dem "künstlichen Koma" folgt, ist für Felix Junge ein Martyrium: "Ich hatte oft wahnsinnige Schmerzen. Jede Bewegung war ein einziger Horror." Er muss sich mehreren Operationen unterziehen. Um frische Haut für die notwendige Transplantation zu gewinnen, wird sein linker Oberschenkel vom Knie aufwärts in einer Dicke von 0,2 bis 0,3 Millimetern geschält. 14 Tage liegt er auf der Intensivstation und verliert 15 Kilo seines Körpergewichts, wiegt bei einer Größe von 1,81 Metern nur noch 57 Kilogramm. Nach 57 Tagen wird er entlassen, muss aber noch anderthalb Jahre lang 24 Stunden am Tag eine Kompressionsjacke tragen, egal ob es draußen bitterkalt oder sehr warm ist.

Zum physischen kommt bald auch ein enormer psychischer Druck. Die juristische Aufarbeitung des Geschehens vom 14. Juni 2007 erweist sich als äußerst kompliziert. Der seinerzeit eingeschaltete Anwalt Jürgen Hennemann ahnt früh, dass Felix in ein "unwürdiges Haftungskarussell" geraten werde.

Zwar hat der Verursacher des Unfalls, Karsten Egler, den Fall sofort der Haftpflichtversicherung gemeldet. Doch die R+V weist von Beginn an jegliche Zahlungspflicht zurück. Schließlich sei Egler ja als Ortsbrandmeister tätig gewesen. Und das auch noch auf dem Gelände der Freiwilligen Feuerwehr Tötensen. Daher müsse die Gemeinde Rosengarten als "Dienstherrin" des Ehrenbeamten über den Kommunalen Schadenausgleich, die Versicherung für Gebietskörperschaften, haften.

Eine Klage vom 4. Februar 2008 gegen die Kommune vor dem Landgericht Stade wird mit Urteil vom 19. November 2008 aber abgewiesen. Die Begründung: Egler habe nicht "in Ausübung eines öffentliches Amtes" der Gemeinde gehandelt. Überdies habe das Grillfest im Rahmen einer Polizeiveranstaltung stattgefunden. Anwalt Hennemann geht in Berufung, der Streitwert wird auf 105 000 Euro festgesetzt.

Daraufhin tritt das Land Niedersachsen, dem die Polizeiwache untersteht, in den Fall ein. Allerdings an der Seite der Gemeinde. Für Hubert Junge eine schwierige Situation. Denn nun müssen er und seine Frau Ulrike als Felix' gesetzliche Vertreter die Berufung auch gegen seinen eigenen Arbeitgeber ausfechten. Das trägt ihm äußerst unangenehme Fragen seines Vorgesetzten ein - und in letzter Konsequenz den Wechsel in eine andere Dienststelle. Genutzt hat die Intervention nichts. Am 9. Juli 2009 schmettert in zweiter Instanz auch das Oberlandesgericht (OLG) Celle die Klage gegen die Gemeinde Rosengarten und das Land Niedersachsen als unbegründet ab.

Aufatmen bei Rosengartens Bürgermeister Dietmar Stadie. Er hatte der Familie in einem Telefonat wenige Tage nach dem Unfall versprochen, alles werde getan, um die Sache zu regeln. Seit die Gemeinde juristisch entlastet ist, hat er nichts mehr von sich hören lassen. Dem Abendblatt sagt der 65-Jährige: "Dass der Fall noch immer nicht abgeschlossen ist, empfinde ich persönlich als bitter und überaus bedrückend." Eine Verantwortung der Gemeinde sei jedoch "geprüft und abschlägig beschieden" worden, mehr habe nicht in seiner Macht gestanden: "Es ist schließlich nicht mein Geld, das ich als Chef der Kommune verwalte."

Karsten Egler, dem Verursacher des Unfalls, lässt die ungeklärte Situation der Familie Junge keine Ruhe. Von tiefen Schuldgefühlen geplagt, unterschreibt er am 20. August 2009 ein notariell beglaubigtes Schuldanerkenntnis. Darin räumt er ein, "durch eigenes Fehlverhalten" die schweren Verletzungen von Felix Junge verursacht zu haben. Und er schulde diesem ein Schmerzensgeld in Höhe von 100 000 Euro sowie eine Kostenfreistellung für bereits aufgelaufene Anwalts- und Gerichtskosten von 14 119,32 Euro.

Das Amtsgericht Tostedt erlässt wenig später einen entsprechenden Pfändungs- und Überweisungsbeschluss gegen die R+V, den die Versicherung jedoch zurückweist. Nicht Herr Egler, sondern dessen Frau Ingrid sei Versicherungsnehmer und die Forderung überdies längst verjährt. Im Übrigen müsse sich Felix Junge eigenes Mitverschulden zurechnen lassen. Jede Schmerzensgeldforderung über 25 000 Euro sei sowieso völlig überzogen.

All diesen Argumenten mag das Landgericht Wiesbaden, vor dem Felix seine Forderungen gegen die R+V schließlich einklagt, nicht folgen. Mit Urteil vom 18. November 2010 wird die Versicherung zur Zahlung von 114 119,32 Euro plus fünf Prozent Zinsen verpflichtet. Ausdrücklich wird festgestellt, dass die Höhe des geforderten Schmerzensgeldes angemessen sei. Es habe "unstreitig erhebliche Verletzungen des Klägers mit Eintritt entsprechender Dauerschäden" gegeben. Und, so Richterin Margarete Stuffler-Buhr: "Es kann nicht sein, dass Opfer so lange auf ihr Geld warten müssen."

Doch die Freude bei Familie Junge über das eindeutige Urteil ist nur von kurzer Dauer. Die R+V kündigt umgehend Berufung an und zieht vors OLG Frankfurt. Richter Claus Berkhoff regt einen Vergleich an: die einmalige Zahlung von 90 000 Euro. Familie Junge ist einverstanden - die R+V lehnt einmal mehr ab. Stattdessen hält die Versicherung mit neuem Anwalt an allen längst bekannten Argumenten fest. Und sie spielt einen letzten, fragwürdigen Trumpf aus: Karsten Egler und die Familie Junge würden doch unter einer Decke stecken. Juristisch formuliert liest sich das so: Herr Egler habe "die weit überhöhten Ansprüche des ihm gut bekannten Klägers bewusst zum Nachteil der Beklagten (R+V, die Red.) anerkannt". Insoweit handele es sich "bei den Anerkenntnissen um Scheingeschäfte".

In seinem Urteil vom 7. Februar dieses Jahres bestätigt OLG-Richter Berkhoff im Kern die Wiesbadener Entscheidung. Mit einer für die Familie Junge entscheidenden Einschränkung: Felix Junge steht nur noch ein Schmerzensgeld in Höhe von 50 000 Euro zu, die Erstattung der Anwaltskosten von 14 119,32 Euro wird gänzlich abgewiesen. Das Gericht begründet die Halbierung des Schmerzensgeldes unter anderem damit, dass sich "die Narben nicht unerheblich gebessert" hätten und "nennenswerte Narbenbildungen im Gesicht und an den Händen nicht zu beklagen" seien.

Die Familie Junge will dieses Urteil nicht hinnehmen. Mit einer Nichtzulassungsbeschwerde soll nun der Gang vor den Bundesgerichtshof (BGH) geprüft werden - Ausgang offen. "Wir haben so lange für Felix gekämpft, da müssen wir jetzt auch die letzte Option wahrnehmen", sagt Hubert Junge. Den Glauben an einen fairen Rechtsstaat hat sein Sohn längst verloren. "Am Ende bin ich noch selbst schuld, weil ich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Ich will mir nichts erschleichen. Ich will nur das, was mir zusteht", sagt Felix.

2008 hat er seinen Realschulabschluss gemacht. Jetzt steckt er mitten im dritten Lehrjahr zum Einzelhandelskaufmann bei der Edeka-Filiale Herbert Meyer in Nenndorf. In diesem Jahr will Felix die Ausbildung abschließen und dann mit seiner Freundin Janina Bohm, 19, in eine eigene Wohnung ziehen. Seit Juni 2008 sind die beiden ein Paar. Janina sagt: "Die Narben spielen für mich überhaupt keine Rolle."

Doch der ungewisse Ausgang des Rechtsstreits belastet den 20-Jährigen sehr. Bei seinen Eltern steht der Azubi inzwischen mit fast 40 000 Euro in der Kreide. Zu den Gerichts- und Anwaltskosten kommen noch diverse Rechnungen für die Nachbehandlungen seiner Narben, die die insolvente Krankenkasse City BKK nicht mehr beglichen hat. "Ich hoffe, ich kann meinen Eltern die Schulden jemals zurückzahlen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass dieser ganze Albtraum irgendwann vorbei ist", sagt Felix.

Wie das Abendblatt erfuhr, will auch die R+V vor den BGH ziehen. Dabei darf sich die Versicherung schon jetzt als großer Gewinner dieses schier endlosen Rechtsstreits fühlen. Vom ursprünglichen Streitwert ist nicht einmal die Hälfte übrig geblieben.

Laut eigenem Geschäftsbericht erwirtschaftete die R+V-Versicherung 2010 einen Jahresüberschuss von 176,3 Millionen Euro, das waren 45,4 Millionen Euro mehr als 2009. Das Prämienaufkommen erreichte 2010 einen Rekordwert von 1,4 Milliarden Euro.