Zum Schluss der Causa Wulff haben manche Kritiker weit übers Ziel hinausgeschossen. Das war auch unwürdig

In diesem Land drohen die Maßstäbe verloren zu gehen. Als der gescheiterte Bundespräsident Christian Wulff am Donnerstagabend seinen Zapfenstreich bekam, wüteten einige Hundert Durchgeknallte vor dem Schloss Bellevue. Vermutlich fühlten sie sich als mutige Vertreter der Abteilung Volkszorn. Sie machten Krach mit Vuvuzelas, pfiffen mit Trillerpfeifen und riefen "Schande".

Schande? Man kann, ja man muss Wulff vieles vorwerfen: Das höchste Amt im Staate war zwei Nummern zu groß für den Rechtsanwalt aus Osnabrück und seine schnäppchenorientierte Lebensweise für einen Politiker so peinlich wie unangemessen. Aber Schande? Hat da wirklich jemand Schande gerufen? Geht es vielleicht eine Nummer kleiner?

Es gibt Dinge im Land, die den Begriff Schande verdienen. Dass Neonazis - unbemerkt vom Verfassungsschutz - neun Migranten und eine Polizistin ermorden können, ist eine Schande. Dass mitten in Deutschland, unter den Augen des Jugendamtes, Kinder verhungern, zu Tode gequält werden oder an Methadon sterben, ist eine Schande. Oder dass Europa, dieses großartige Friedensprojekt, an kleinkarierten Krämerseelen und größenwahnsinnigen Finanzjongleuren zu zerschellen droht, auch das darf man Schande nennen. Darüber muss man sich empören, da muss man nachhaken, da darf man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Doch das Land hat sich in den vergangenen Wochen vor allem mit der Causa Wulff beschäftigt. Lange zu Recht, zum Schluss aber ohne Maß. Der Bundespräsident wurde zum Fußabtreter für vermeintlich moralisch Überlegene, die in einer nie gesehenen Weise ihre Politikerverdrossenheit auslebten oder ihrerseits zur Politikverdrossenheit beitrugen.

Der SPD-Chef Sigmar Gabriel etwa - 2003 von Christian Wulff als Ministerpräsident geschlagen - sprach der "Type im Bundespräsidialamt" rundweg das Recht auf den Zapfenstreich ab; einige Politiker sagten ihre Teilnahme publicitygeil ab, obwohl sie gar nicht eingeladen waren. Und die Piraten-Partei, die bislang scheinbar nur wenig Probleme hatte außer der bedrohten Freiheit im Internet, fühlte sich berufen, noch einmal richtig nachzutreten. Marina Weisband, politische Geschäftsführerin der Piraten-Partei, fand den Zapfenstreich "richtig gruselig". Sie habe "Schauder bekommen" ob der Machtdemonstration, nach dem Motto: "Jetzt lasse ich meine Eier richtig raushängen", erklärte sie in der ARD. Musikexperten mokierten sich über Wulffs Liederauswahl, die Linke ausgerechnet sorgte sich um die Ehre der Soldaten. Empört sind alle, je lauter, desto selbstgerechter. Das nennt man Heldentum nach Ladenschluss.

Auch wenn es gern vergessen wird: Christian Wulff hat schwere Fehler gemacht, doch auch für den einst beliebten und nun umso mehr verhassten Ex-Bundespräsidenten gilt noch die Unschuldsvermutung. Selbst wenn er verurteilt werden sollte, ist diese moralische Vorverurteilung durch Politik, Bürger, Medien unangemessen.

Selbst für Sittenstrolche gibt es zu Recht Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung. Da darf die Volksseele bei mutmaßlicher Vorteilsnahme etwas abkühlen. Zumal Christian Wulff, auch das darf man mal erwähnen, zwei Kinder hat. Und die können nichts dafür, dass ihr Vater gern den ein oder anderen Vorteil mitnimmt.

Mit dem Lied "Da berühren sich Himmel und Erde" hatte sich der Katholik Wulff bewusst ein modernes Kirchenlied gewünscht. Auch wenn das christliche Erbe mehr und mehr in Vergessenheit gerät, ist die Vergebung der Sünden eine zentrale Botschaft. Es macht Hoffnung, dass der nächste Bundespräsident dieses Erbe als ehemaliger Pfarrer noch gut kennt.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt