Die Passionsfrucht und die Passionsblume kennt fast jeder, aber die Passionszeit kaum noch einer. Dabei ist die Passionszeit eine besonders kostbare Zeit, weil sie uns zum intensiven Leben reifen lässt. Oberflächlich gesehen widmen sich diese sieben Wochen vor Ostern zwar allein der Betrachtung des historischen Leidens und Sterbens Jesu. Aber in der Tiefendimension hat das, wie bei allen biblischen Geschichten, unmittelbar mit uns selbst zu tun.

Die meisten Menschen wollen mit dem Leiden ja nicht viel zu tun haben. "Positiv denken" ist ihr Motto. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wer möchte nicht froh gestimmt durchs Leben schreiten und das Positive erleben? Doch es wäre ein Trugschluss zu glauben, es gäbe einen Lebenswandel ohne Leid und Schmerz, ein Dasein ohne Kränkung, ein Leben ohne den Tod. Und so können diese jährlich wiederkehrenden Wochen der Passionszeit uns ermutigen, die dunklen Seiten des Lebens gerade dann in den Blick zu nehmen, wenn sie uns noch nicht oder nicht mehr im Griff haben.

Vor Jahren, es war wie jetzt Ende März, traf ich Frau E. auf ihrem Weg zum Friedhof, der unmittelbar neben unserem damaligen Pastorat lag. Zwei Jahre vorher war ihr Sohn Klaus bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Auf meine Frage, wie es ihr denn gehe, meinte sie etwas verlegen: "Seit dem Tod meines Sohnes erlebe ich den Frühling viel bewusster. Die blühenden Zweige, die zwitschernden Vögel, die Schneeglöckchen und Krokusse - früher war das nur schön. Aber nach dem Tod von Klaus entdecke ich darin die Fülle des Lebens. Ich mag es gar nicht zugeben, aber ich lebe seitdem viel bewusster und mit mehr Zuversicht und dankbarer Freude."

Wer die dunklen Seiten des Lebens annehmen kann und sich mit ihnen auseinandersetzt, der wird auch die hellen ganz anders, nämlich viel intensiver, erleben können. Es ist nicht unbedingt notwendig, eigenes Leid zu erfahren. Schon die Passionszeit, also die Betrachtung des Leidens und Sterbens des Gottessohnes, kann helfen, die Amplituden des Lebens zu erweitern. Ich bin überzeugt: Wo die Tiefen des Lebens nicht verleugnet, sondern ausgelotet und bewusst werden, da werden auch die schönen und lebenssatten Seiten dankbarer wahrgenommen. Es ließe sich auch so sagen: Positiv denken ohne Passionszeit - das geht gar nicht.

pastor.brandi@gemeinde-altona-ost.de