Als Präsident der TU Hamburg-Harburg war er von Menschen umzingelt. Heute lebt Hauke Trinks allein auf einer einsamen norwegischen Insel.

Auf Utsira hat der Frühling begonnen. Die ersten Blüten trotzen dem Wind, die Temperaturen sind auf 5 Grad geklettert. Aber ein heftiger Sturm kündigt sich an. 20 Kilometer vor Norwegens Westküste liegt die felsige Insel. 200 Menschen, die meisten Fischer, Seeleute und Arbeiter von den Ölbohrinseln, teilen sich das Eiland mit Seeadlern, Kolkraben und Möwen, ein paar Schafen und Hochlandrindern, wenn nicht gerade Kolonien von Zugvögeln eine Rast einlegen. Einzige Verbindung zum Festland ist eine Fähre. Und hier, in einem alten Fischerhäuschen direkt an der Küste, lebt Hauke Trinks, 69, mit seinem Polarhund Hey und genießt es, wenn sich vor seiner Haustür die Wellen brechen. "Meine Klause" nennt der Physiker und Forschungsreisende diese Einöde am Ende des bewohnbaren Europas, gegen die er sein Reetdachhaus in der Heide eingetauscht hat, ohne Fernseher, ohne Internetanschluss, ohne Waschmaschine. Und in diesem Winter auch ohne Schnee und Eis. "Das", sagt Trinks, "hatte ich in meinem Leben ja genug."

Hauke Trinks kam 1943 in einer Bombennacht in Berlin zur Welt, wuchs bei seiner Familie in der schwedischen Einsamkeit auf, war Fallschirmspringer bei der Bundeswehr, studierte Physik und Medizin und war schließlich nach einem abenteuerlichen Forscherleben sechs Jahre lang bis 1999 Präsident der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Die tiefe Sehnsucht seines Lebens aber war das Eis.

Immer wieder zog es ihn, zuletzt mit seinem Schiff "Mesuf", gen Norden, ins Polargebiet. Ob Labrador, Jan Mayen oder Spitzbergen - er hat all diese kalten Herausforderungen kennengelernt. Und er riskierte es, monate-, gar jahrelang allein oder zu zweit in dieser anscheinend menschenfeindlichen Umgebung zu leben.

"Hier draußen Auge in Auge der Natur gegenüberzustehen und seinen Scharfsinn an ihren Rätseln zu erproben, gibt dem Leben einen ungeahnten Inhalt", so beschrieb der Hamburger Polarforscher Alfred Wegener den Reiz der Arktis zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Trinks, der in seinen einsamen Polarnächten viel Zeit zum Nachdenken hatte, erkannte für sich: "Man verliert das beruhigende Gefühl, ein Mitglied der zivilisierten Menschheit zu sein. Der Mensch nähert sich hier seinem wahren Ich."

Das Lebensalter setzt ihm dabei keine Grenze. Im Gegenteil, vom beschaulichen Ruhestand hält der Mann mit dem eisgrauen Haar, den stahlblauen Augen und der sonnengegerbten Haut nichts: "Der Vorzug des Alters, kaum mehr Verantwortung tragen zu müssen und das eigene Leben mit allen Höhen und Tiefen zum großen Teil hinter sich gebracht zu haben, schafft eine große persönliche Freiheit." Und die nutzt er reichlich.

So hat sich Hauke Trinks im vergangenen Jahr wieder auf die Reise gemacht, vielleicht zum letzten Mal. Neun Monate lang harrte er auf der Zwölf-Meter-Yacht "Mesuf" aus, eingeschlossen im dichten Eis von Spitzbergen auf 80 Grad nördlicher Breite, näher am Nordpol als an seiner deutschen Heimat. Zusammen mit der Engländerin Marie und seinem treuen Hund Hey überstand er den dunklen arktischen Winter und wartete geduldig, bis im Februar das Tageslicht als schwacher Schein am Südhimmel zurückkehrte. Bei minus 10 Grad an Bord und minus 38 Grad Außentemperatur reduzierte sich das Leben, befeuert von Kerzen, einem Petroleumbrenner und einem kleinen Dieselofen, auf seine fundamentale Basis. Lange Baumwollunterhosen, dicke Wollsocken, darüber zwei Paar Hosen, Pullover, Schneestiefel, Anorak, Pudelmütze und zwei Paar Handschuhe schützten vor dem Dauerfrost, wenn es draußen die täglichen Messwerte abzulesen galt. Die Speisekarte war überschaubar: Frühstück aus Haferflocken mit Trockenmilch und heißem Wasser, zum Lunch heißen Tee und ein paar Scheiben selbst gebackenes Brot mit Margarine, Käse und Marmelade, Abendessen aus einer Pfanne mit Reis, Nudeln oder Kartoffeln, dazu selbst gefangene Lachsforellen. Abends vielleicht noch ein kleines Glas Rotwein.

+++ Harburg und Spitzbergen +++

"Vier Wochen lang hatten wir einen Eisbären als Nachbarn", erzählt Trinks, als wäre der so selbstverständlich wie ein kuscheliges Haustier. Der Bär zerrupfte den "Kartoffelkeller" der "Mesuf" im Schnee und spielte mit den hart gefrorenen Kartoffeln Billard. Einmal versuchte er, auf das Schiff zu gelangen. Dabei zersplitterte ein Teil der Schutzplane über dem Heck, der Wind wehte Pulverschnee hinein und schuf im Boot eine Winterlandschaft, die beinahe zur Postkartenidylle taugte. Ansonsten lag der Bär meist 50 Meter vom Schiff entfernt im Schnee, seine Umrisse in der Dunkelheit waren nur zu ahnen.

Zur Ausrüstung vor Spitzbergen gehörten drei Gewehre mit Munition, Angelzeug, ein Weltempfänger, Batterien für die Lampen, Vitamin-C-Tabletten gegen Skorbut, Bücher und Hörbücher, dazu 200 Wachskerzen. Den minimalen Energiebedarf deckten Solarenergiemodule, alle vier Wochen lud Trinks mit einem Benzin-Stromgenerator die Bordbatterien der "Mesuf" auf.

Das Radio, das zuweilen die Deutsche Welle an Bord holte, und ein Satellitentelefon für alle Fälle hielten den Kontakt zur Außenwelt. Aber: "Ob im Notfall überhaupt ein Hubschrauber fliegen kann, ist nicht sicher." Zu oft herrschten Schneestürme. So beschlossen Trinks und seine Partnerin: "So ein Fall darf eben nicht eintreten!"

Warum nimmt ein Mensch dieses Risiko in Kauf, sein Leben womöglich in der tiefgekühlten Einsamkeit zu beenden? Wo liegen die Wurzeln für diese eiskalte Liebe, den Drang nach Norden, den sonst nur Zugvögel spüren? "In den tief verschneiten schwedischen Wäldern meiner Jugend habe ich gelernt, mit der Natur zu leben", versucht Trinks eine Erklärung. Wehleidigkeiten gab es nicht, Kälte und Eis waren Normalzustand. Die Berichte der Polarforscher Nansen, Nordensiöld, Amundsen, Andrée, Scott verschlang er wie andere Kinder Karl May. Fridtjof Nansen gab dem jungen Hauke Trinks gleichsam eine Lebensanweisung: "Die Macht des Unbekannten treibt uns zu den verborgenen Kräften und Geheimnissen der Natur." Trinks bastelte sich daraus ein eigenes Motto: "Leben heißt wagen."

Der Kontrapunkt zum ewigen Eis, die glühend heißen Sanddünen der Wüste, haben ihn nie gereizt. Selbst als ihn eine ägyptische Hochschule als Gründungspräsidenten in die Sinai-Wüste einlud, erschien ihm dieser Lebensraum "viel fremder und unverständlicher" als die Eisfelder von Spitzbergen. Da hätte er wohl statt im winterlichen Skandinavien in einer Oase aufwachsen und statt mit Schlittenhunden mit Kamelen durch die Landschaft ziehen müssen. "In der Kälte kann ich mich entsprechend kleiden und bewegen, um mich wohlzufühlen, zur Not hilft da auch mal ein steifer Grog. Ich bin lieber bei den Inuit als bei den Beduinen", sagt er. Mal ganz abgesehen davon, dass sein treuer Polarhund Hey die Hitze kaum ertragen könnte.

Natürlich ist Hauke Trinks nicht nur Abenteurer, sondern immer auch Wissenschaftler geblieben. Er hat noch im vergangenen Jahr auf Spitzbergen über die Bindung von Kohlendioxid in Schneeflocken, Nebeltröpfchen und Eiskristallen geforscht und herausgefunden, warum zum Beispiel Schneefelder kräftig CO2 emittieren. Und seine lange umstrittene These, dass das erste primitive Leben vor knapp vier Milliarden Jahren im Meereis entstanden sein könnte, wird weltweit unter Wissenschaftlern diskutiert und konnte inzwischen im Laborversuch erstmals bestätigt werden.

Das ewige Eis ist eine Welt, die den meisten Menschen fremd bleiben wird. Eine Welt, die archaischen Gesetzen unterliegt. Wer sich hier behaupten will, muss das Diktat der Natur akzeptieren und seine schlummernden Urinstinkte aktivieren. Und natürlich, so Trinks, entwickelt der Mensch in diesem Umfeld "eine gleichmütige Einstellung gegenüber der Notwendigkeit des Sterbens". Er hatte Sokrates, Descartes, Kant, Sartre, Heidegger und Goethe in der Bordbibliothek, das vor 4500 Jahren niedergeschriebene Gilgamesch-Epos - und die Bibel. Seine philosophischen Gedanken will er jetzt in einem Buch niederschreiben. Auch die Natur habe so etwas wie Moralgesetze. Wie weit kann sich der Mensch mittels seiner Vernunft und seines Willens davon entfernen? Sollte es neben den universellen Menschenrechten auch ebensolche -pflichten geben?

+++ Der Luxus der Einsamkeit in Norwegen +++

Von da ist es nicht weit zur nächsten Frage: Wie hält es Trinks mit der Religion, wie nah ist er Gott in den kalten, dunklen Nächten? "Physiker sind keine gottlosen Gesellen", sagt er. Nur stelle er sich Gott eben nicht als "alten Mann mit langem Bart vor, der auf einer Wolke sitzt und mich beschützt". Eher als ein Prinzip, "einen Urgrund", der alles Leben beeinflusst. Faszinierend findet er seine Beobachtung, dass auch Tiere nach den Prinzipien der zehn Gebote leben.

Nun ist dieser Hauke Trinks kein sonderbarer Kauz, der mit unserem Lebensstil nichts anfangen kann. Natürlich hat auch er einen "normalen" Alltag gehabt, eine Familie gegründet, sich mit einer erfolgreichen Karriere Ansehen und Wohlstand erworben. Und er steht dazu, dass er diese Vorzüge der modernen westlichen Gesellschaft auch einmal erstrebenswert fand: "Ich gebe gern zu, dass ich dieses Leben auch geliebt habe. Es hat mir Spaß gemacht." Aber eben nicht auf Dauer. "Ich glaube nicht, dass wir immer mehr Komfort, teurere medizinische Versorgung und absolute Sicherheit brauchen." Wer fast ein Jahr allein am Polarkreis zubringt, lebt in der Tat nicht besonders komfortabel.

Hauke Trinks räumt ein, dass seine abenteuerlichen Reisen kein geregeltes Familienleben zulassen. Er spricht von Kränkungen und Enttäuschungen, die er seinen Mitmenschen, auch seinen Nächsten, zugemutet habe, und kommt zu dem Schluss: "Es ist wohl unmöglich, mit mir in einer dauerhaften trauten Zweisamkeit zu leben." Ein einsamer Wolf also?

Ganz so einsam aber auch wieder nicht. Natürlich verbringen seine 13 Enkelkinder gern ihre Ferien auf Utsira. Und dann gibt es noch den Geist von Nina, einer Hausbewohnerin, die in der Fischerhütte herumspukt, wie die Nachbarn ernsthaft versichern. "Kennengelernt habe ich die Dame allerdings noch nicht", sagt Trinks. Doch wenn es drinnen mal schlurft und draußen an den Türen rüttelt, erscheint der Gedanke gar nicht so abwegig.

Die Erinnerungen an Hamburg bleiben trotz der Distanz frisch. Der Geruch nach Meer und Schiffen auf den Landungsbrücken, ein frisch gezapftes Bier in einer Stehkneipe im Hauptbahnhof, das Menschengedränge auf der Reeperbahn, das Schauspielhaus, das Rathaus, sogar die Neujahrsrede eines "ehrbaren Kaufmanns" in der Börse fallen ihm spontan ein. Ab und zu, wenn er sich nicht gerade irgendwo im Eis aufhält, ist Trinks bei der "Freitagsgesellschaft" bei Altkanzler Helmut Schmidt in Langenhorn zu Gast. Und gelegentlich streift er durch die Labors der Technischen Universität in Harburg. Wenn die Jung-Ingenieure ihm dann besondere Effekte aus ihren komplizierten Forschungsprojekten vorführen und farbenprächtige Computersimulationen zeigen, fühlt er deutlich: "Meine Zeit ist abgelaufen." Immerhin freut er sich, dass ihn die jungen Wissenschaftler noch ernst nehmen: "Sie lachen mich wenigstens nicht aus."

Die Besuche in Hamburg sind seltener geworden. Aber Anfang Mai kommt Trinks wieder, zum Familientreffen. Das Haus auf Utsira kann er dann bedenkenlos sich selbst überlassen. Dann passt ja Nina auf, der Hausgeist.