Unverwüstliche Klischees: Wie andere Menschen aus dem In- und Ausland auf unsere Hansestadt Hamburg blicken - und wir auf sie.

Wenn Hamburger das Tor zur Welt durchschreiten - und das tun sie den Statistiken nach besonders häufig und gern -, geraten sie auf ihren Reisen zwangsläufig mindestens einmal in die Situation, erklären zu müssen, aus welcher deutschen Stadt sie kommen. Wenn sie dann wahrheitsgemäß antworten - "From Hamburg!" -, dann erhellen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Gesichtszüge des Fragenden sofort, bevor sie in ein breites Grinsen übergehen. Und von Anuba bis Australien, von der Zentralafrikanischen Republik bis Zypern wird dann dem Reisenden beschieden: "Oh yessss, Hamburg! Reeperbahn!" Natürlich auch in einer anderen Sprache. Na ja, wohl in allen Sprachen.

Irgendwie ist es schon merkwürdig, dass die Welt da draußen unsere "schönste Stadt der Welt" überproportional häufig mit einem riesigen Bumslokal gleichsetzt.

+++ Gäste aus Deutschland +++

+++ Die Gäste in Hamburg +++

Dabei gäbe es weiß Gott weltstädtischere Ingredienzien zu beschreiben als die letzten Stripschuppen und vielleicht noch die Herbertstraße auf der ehemals "sündigsten Meile" der Welt, die längst zum Boulevard der jugendlichen Komasäufer verkommen ist, an den Wochenenden jedenfalls.

Als da wären die Alster, das anspruchsvolle Segelrevier mitten in der Stadt. Oder der Flugzeugbauer Airbus, der seinen amerikanischen Mitbewerber Boeing gerade abgehängt hat. Ja, auch Ohlsdorf, der größte Friedhof Europas, wo Schnellfahrer schon mal von der Polizei zur Kasse gebeten werden können, ist weltstädtisch. Oder der Teilchenbeschleuniger DESY, Wohnzimmer internationaler Wissenschaftskoryphäen, wobei allerdings kaum ein Mensch erklären kann, warum es so bahnbrechend ist, wenn Quarks oder sogenannte Winzigkeiten in Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen und zerschellen.

+++ So schön ist Hamburg +++

Aber all das scheint nicht genug ins Gewicht zu fallen, um die Bedeutung der Reeperbahn für Hamburg ins zeitgemäße Verhältnis zu setzen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass unsere Stadt mehr Brücken als Venedig besitzt, sowie London den (allerdings inoffiziellen) Titel "Europäische Musicalhauptstadt" gemopst hat. Nein, das global existierende Synonym für Hamburg ist und bleibt die Reeperbahn, pulsierende Aorta des schummerigen Rotlichtbezirks.

+++ Hamburg wirbt auf Reisemesse mit 100 Partnern +++

Sei's drum. Der Hamburger fächelt sich diskret ein Stäubchen von seinem dunkelblauen Blazer, selbstverständlich mit Goldknöpfen, eventuell sogar mit aufgesticktem Wappen auf der linken Brusttasche, zupft die Bügelfalte seiner Flanellhose zurecht, während die ihm zugetane Hamburgerin im Cashmere-Twinset gekonnt lasziv mit ihrer Perlenkette spielt und ihrem Jack-Russel-Terrier energisch befiehlt, nicht nach dem Ober zu schnappen.

Er übersieht mit der ihm eigenen hanseatischen Reserviertheit diese glatte Fehleinschätzung. Denn er weiß ganz genau, dass alle Versuche der Quittjes, etwas so Unbeschreibliches wie Hamburg charakterisieren zu wollen, immer mit Klischees einhergehen. Mit Klischees, die freilich stimmen, jedenfalls ab und zu ein bisschen, weil nämlich alle Klischees einen wahren Kern besitzen. Und dann kommen natürlich noch so einige Eifersüchteleien hinzu ...

Berlin

Besonders deutlich wird dies an der Rivalität der beiden größten deutschen Städte, Berlin und Hamburg. Weltstädtisch geben sich zwar beide Metropolen, aber schon wer im Ausland einen "Berliner" verlangt, wird hungrig bleiben, während das Wort "Hamburger" rund um den Erdball verstanden wird. Und während das Bürgertum an der Spree inzwischen ziemlich unter die Räder geraten ist, zählt man an der Elbe in den hinter Rhododendren verborgenen Villen nach wie vor das (sogenannte) "Alte Geld", das sich nicht erst im Börsenboom der Jahrtausendwende vermehrte. Oder durch Milliardensubventionen, die nach der Wiedervereinigung in den Osten flossen und damit auch nach Berlin, in die geschenkte Hauptstadt. Zwar wachsen auch in Grunewald und Dahlem Rhododendren, aber vielleicht sind sie nicht so schön buschig. Und auch der Wannsee liegt nun mal leider nicht mitten in der Stadt.

So krakeelt der Berliner häufig lauter als notwendig und forciert wie besessen einen einseitigen Städtezweikampf, den die Hauptstadt zumindest in optischer Hinsicht und Größe doch längst für sich entschieden hat. Das Regierungsviertel und der Reichstag, die Museumsinsel, der Potsdamer Platz - das sind architektonische Meilensteine aus Sandstein, Granit und Beton. Aber weil das den Großmannssüchtigen noch immer nicht reicht, werden zum Beispiel Künstler aus Hamburg an die Spree gelockt, mediengerecht wie auf dem Transfermarkt der Fußball-Bundesliga. Fairerweise muss man jedoch zugeben, dass in den vergangenen Jahren viele dieser Künstler von einer latent unglücklichen Hamburger Kulturpolitik zum Auswandern getrieben wurden. Aber dass der Umzug eines großen Musikkonzerns wie Universal von bollerndem Triumphgetöse begleitet wurde und es Hamburg im Gegenzug nicht gelungen ist, die Zentrale der Deutschen Bahn nach Hamburg zu holen, zeigt überdeutlich, wie tief der Stachel des Neides bei den Berlinern sitzt. Sie müssen immer erst mal auffallen, bevor man sie bemerkt.

Der leider viel zu früh verstorbene Gerhard Krug, Mitglied der HSV-Meistermannschaft von 1960 und nach seiner Fußballerkarriere angesehene Journalist, der jeweils lange in beiden Städten lebte, beschrieb den feinen Unterschied anhand des Auftritts des Hamburger Konzerngründers Werner Otto (Otto-Versand), der fünf Millionen Euro zugesagt hatte, um in Potsdam das Belvedere am Pfingstberg "aus Ruinen auferstehen zu lassen". Krug: "Als er zur Besichtigung des fertigen Turms die Stufen erklomm, fragte er die Finanzministerin halblaut: 'Wie viel hab ich noch gegeben?' Die Politikerin dehnte die Schweigeminute bewusst aus und fragte dann zurück: 'Sieben? Oder acht?' - 'Also acht', sagte Otto."

München

Die Meister der revidierten Vorurteile kommen aus München. Die Kunst des hanseatischen Leisetretens wird auch von den Münchnern nicht unbedingt beherrscht. Doch während es zwischen den Berlinern und Hamburgern eher zickig zugeht, sind die Münchner unserer Stadt und uns Bewohnern in raubeiniger Herzlichkeit zugetan. Fragt man den typischen Bajuwaren - Sie wissen schon, das zugewachsene Mannsbild in der Krachledernen, das den lieben langen Tag im Biergarten sein Weißbier trinkt -, was er von Hamburg hält, wird er mit einem Blick in den weiß-blauen Himmel antworten: "Da regnet's doch immer, da oben bei den Fischköpfen. Und dann stolpern die doch auch immer über den spitzen Stein. Gell?"

Allerdings hat er nur teilweise Recht. Langfristig, über die Jahrzehnte hinweg gesehen, sei München im Vergleich zu anderen Großstädten tatsächlich bevorzugt, sagen die Meteorologen vom Deutschen Wetterdienst. Es sei stets etwas sonniger und trockener als in Hamburg, Berlin oder Köln. Allerdings handele es sich dabei lediglich um Differenzen zwischen zwölf und 20 Minuten. Der Sommer 2010, als der Englische Garten und die Isarauen absoffen, während im Hamburger Stadtpark bereits Busch- und Waldbrandgefahr herrschte, sei eine Ausnahme gewesen.

Wenn man nach dieser unbedeutenden Niederlage als Hamburger dann dezent darauf hinweist, dass Fischköppe aus Bremen stammen und Spitzsteinstolperer in Hannover zu Hause sind, werden in der Regel weitere Maßkrüge auf den Tisch kommen. O ja, die Münchner lieben Hamburg geradezu, und umgekehrt ist das auch der Fall. Das merkt man nicht nur an der Zahl der Übernachtungsgäste, sondern auch an der Zahl derjenigen, die die "Süddeutsche" lesen, sowie an der unbewiesenen, aber unwidersprochenen Behauptung, dass mehr gebürtige Münchner in Hamburg leben als in München selbst. Allerdings sehen die sich auch ein wenig als Entwicklungshelfer, zumindest in kulinarischer Hinsicht. Ein satter Beweis dafür mögen die zunehmenden Hamburger Gastronomiebetriebe sein, die mit knusprigen bayerischen Schmankerln zu überzeugen verstehen, während man das original Hamburger Labskaus rund um den Viktualienmarkt vergeblich sucht ... Wir Hanseaten lassen die Münchner jedoch großzügig gewähren. Denn uns schmeckt die Haxe schließlich auch.

Nordrhein-Westfalen

Für die stets lustigen und kontaktfreudigen Nordrhein-Westfalen ist die erste Reise in den Norden dagegen stets eine Art Fahrt ins Ungewisse. Denn in Köln, Düsseldorf und anderswo gelten schließlich alle Landstriche, in denen der Karneval zum Minderheitenprogramm gehört, als suspektes Territorium. Aber dann hatte es sich irgendwann bis in die Kölner Bucht herumgesprochen, dass es auch im zugeknöpften, protestantischen Hamburg ein paar bunt angezogene, quietschfidele Leute geben würde, die ohne Unterlass fröhlich herumhopsen würden. Und zwar das ganze Jahr! Das wollten sich die Rheinländer aus der Nähe anschauen, und siehe da: Sie waren begeistert und verwundert zugleich, wie fröhlich Hanseaten schunkeln und mitklatschen können - im Zuschauerraum und später an den Tresen der "Meile", wo statt "Kabänes" der "Jägermeister" fließt. Mit dem Unterschied, dass die Hanseaten einen am nächsten Tag auch noch (er-)kennen.

Tatsächlich haben die zahlreichen Musicals, die in Hamburg aufgeführt wurden und werden, sehr viel zur Verständigung zwischen dem Narrenvolk und den Hanseaten beigetragen. In der Hamburger Tourismus-Zentrale sagt einer: "Die Rheinländer sind geradezu jeck auf Tarzan!" Und durch die Nähe zur niederländischen Grenze schwappte die Welle der Begeisterung auch gleich zu den Holländern hinüber, die mittlerweile zu den häufigsten Gästen aus dem direkt benachbarten Ausland zählen.

Mittlerweile darf man bezüglich der nordrhein-westfälisch-hamburgischen Freundschaft ge(p)rost von Verbrüderung sprechen. Denn von Jahr zu Jahr fallen mehr Nordlichter zum Gegenbesuch in die Karnevalshochburgen an Rhein und Ruhr ein; häufig ehrfürchtig bestaunt von den Einheimischen, die sich zu Recht fragen, über was für übernatürliche Kräfte Hanseaten verfügen müssen: fünf Stunden Anreise im "Sonderzug Pappnase", dann Rosenmontag total und wieder fünf Stunden zurück. In aufrechter Haltung.

Vereinigtes Königreich

Mit fast 100.000 Besuchern stellen die Übernachtungsgäste aus Großbritannien eine der größten Besuchergruppen dar. Das ist aber auch keine besondere Überraschung, denn die Engländer sind offenbar der festen Meinung, dass Hamburg bloß eine britische Exklave sei und eigentlich zum Commonwealth gehört. Gelten die Hanseaten doch als introvertiert und blasiert, doch nicht zuletzt dürfte vor allem das hamburgische Understatement dem Inselbewohner suggerieren, er mache Urlaub in der Heimat. Nun hat Hamburg auch sicherlich ein Faible für alles Britische, oder besser gesagt für all das Britische, von dem Hamburger denken, dass es britisch sei. Der Poloplatz in Flottbek etwa, der Anglo-German Club oder die unvermeidliche Barbour-Jacke. Und natürlich die Hamburger selbst, von denen statistisch 60 Prozent in der Lage sind, in Englisch zu parlieren, und (willkürlich geschätzte) 75 Prozent, den trockenen britischen Humor zu verstehen.

Hamburg

Doch wie sehen wir Hamburger uns eigentlich selbst? Und unsere Stadt? Als Latte Macchiato schlürfende Cabriofahrer? Als sonnenhungrige Alster- und Strandperlen-Besucher? Als gefühlsarme Pfeffersäcke? Als klimatische Achterbahnfahrer und Spezialisten für Niesel- und Sprühregen? Als Weltbürger, liberal, aber nicht sentimental? Spätestens wenn Lotto King Karl vor dem Anpfiff eines HSV-Spiels "Hamburg, meine Perle" intoniert, bekommt man die Antwort. Dann, wenn sich millionenschwere Reeder, Normalos und Ultras nebeneinander gleichermaßen die eine oder andere Träne verstohlen aus dem Auge wischen. Nicht weil der HSV gerade mal außer Form ist. Sondern weil Hamburg für alle Hamburger nun mal die einzige Stadt ist, "auf die man kann".