Atomausstieg ja, aber ohne Kosten. Jetzt sind mehr Deutsche dafür als vor einem Jahr unmittelbar nach der Fukushima-Katastrophe

Große Zustimmung - unabsehbare Folgen: So sehen die Deutschen ein Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima das Energiekonzept der Bundesregierung. Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Hoffen und Bangen, Chancen und Risiken der Energieversorgung ganz ohne Kernkraft wird immer größer: So das zentrale Ergebnis einer aktuellen Umfragestudie ("Vattenfall-Energiebarometer"), die den Meinungszwiespalt der deutschen Bevölkerung auffällig dokumentiert.

Die neue Emnid-Studie steckt voller Überraschungen: Nicht unmittelbar nach dem japanischen Super-GAU war die Zustimmung zum vorbehaltlosen Atom-Aus am höchsten, sondern aktuell: Statt 38 im April 2011 unterstützen aktuell 55 Prozent den Ausstieg ohne Wenn und Aber, weitere 36 Prozent, solange Energiekosten bezahlbar bleiben.

Da fangen die Probleme an: Denn das Ziel der Regierung, bis 2020 mindestens 35 Prozent des Stromverbrauchs mit erneuerbarer Energie zu decken, geht die Politik offenbar mit zu wenig Energie an: Jeder Zweite hält dieses Wendeziel beim derzeitigen Tempo nicht für realisierbar. Noch schlimmer: Neun von zehn Deutschen rechnen mit einem dauerhaften Kostenanstieg und fordern, dass Energie "bezahlbar" bleibt. Weil das aber für 67 Prozent die eher unrealistische Summe von nicht mehr als 100 Euro im Jahr pro Haushalt bedeutet, sehen Zweidrittel vor allem sich selbst als Leittragende: Ängste, Frust und Streit sind programmiert.

Klimaschonende Energie, langfristige Versorgungssicherheit, vor allem aber vertretbare Kosten sind die Grundbedingungen der Deutschen für die Akzeptanz der Energiewende. Noch wird die Bundesregierung den Vorstellungen der Bürger nicht gerecht. Denn so gut der Startschuss gelang, so schlecht klappt die Umsetzung, weil beispielsweise die persönlichen Konsequenzen noch völlig unklar sind: Zweidrittel bezeichnen sich immer noch als "sehr verunsichert", zumal vier von fünf Kostensteigerungen befürchten, die zu persönlichen finanziellen Einschränkungen führen werden.

Da die Deutschen meinen, dass die Energiewende mindestens 30 Jahre in Anspruch nimmt, sind sie intensiv auf der Suche nach Übergangslösungen. Eine Wunschoption wäre für die Mehrheit ein Energiemix, der sich aus regenerativen Quellen, aber auch aus Kohle, Gas und Öl zusammensetzt: 71 Prozent halten diesen Mix für die kostengünstigste Variante, die auch einen Ausbau konventioneller, aber moderner Gas- und Kohlekraftwerke zur Folge hätte. Die Verarbeitung von Kohle in einem modernen Kraftwerk wie Moorburg halten drei Viertel der Deutschen - zumindest im Laufe des langen Übergangs - für unumgänglich. Für 61 Prozent ist Kohle weiter ein gut geeigneter Energieträger, weil sie uns Unabhängigkeit sichert.

Probleme drohen auch durch das "Not in my own backyard"-Phänomen: Zwar würde eine Mehrzahl den Bau von Windkraftwerken in der Nähe des eigenen Wohnortes akzeptieren, was aber, wenn tatsächlich die Baukräne anrücken? 70 Prozent fordern die Politik auf, sich beim Bau neuer Stromautobahnen für die viermal so teuren Erdkabel anstelle von Überlandtrassen zu entscheiden: Für knapp die Hälfte ist das Landschaftsbild durch die Windräder-"Verspargelung" längst gestört. Also lehnt eine große Mehrheit weitere Strommasten ab, "auch wenn das zu deutlichen Mehrkosten führen wird".

Aus diesem Meinungsmix wird das Wende-Dilemma deutlich: regenerative Energie ja, bitte aber ohne Aufwand, ohne persönliche Einschränkungen, möglichst ohne Zusatzkosten.

Relativ gering ist die Furcht vor Versorgungsengpässen: Nur jeder Dritte rechnet mit Lieferschwierigkeiten, obwohl die Existenzdauer fossiler Brennstoffe von den Deutschen stark unterschätzt wird: 77 Prozent erwarten, dass fossile Brennstoffe wie Öl, Gas oder Kohle in etwa 50 Jahren abgeschöpft sind, obwohl Experten mit bis zu 150 Jahren Verfügungszeit rechnen.

Langfristig aber wird Deutschland im internationalen Vergleich zur Wende-Winner-Nation: 53 Prozent glauben an eine eigenständige unabhängige Energieversorgung, 76 Prozent an neue Arbeitsplätze, 84 an die Stärkung des Wissenschaftsstandorts, sogar 85 Prozent an nachhaltige Klimabesserung.

Wenn wir die Klippen bis dahin überspringen können ...