Die Deutschen haben ihre Volkslieder vergessen. Initiativen wie Canto Elementar helfen bei der überfälligen Rückbesinnung

Es waren die Zeiten, als wir jung waren und Europa einer Verheißung glich. Wir reisten auf einer Fähre von Stockholm nach Sankt Petersburg, Dutzende von Erasmus-Studenten aus allen Herren Ländern, die sich eine Auszeit von ihrem Auslandssemester in Schweden gönnten. Der Alkohol floss in Strömen und löste die Zungen. Auf dem Panoramadeck unter dem nordischen Himmel entwickelte sich ein bierseliger European Song Contest. Und wie im echten Leben galt: Germany zero points. Während Iren, Briten, US-Amerikaner, Schweden oder Spanier kaum zu stoppen waren, schwiegen die Deutschen stille: Sie hatten keine Lieder.

Wirklich verwundern kann das niemanden: Wer die Not im deutschen Musikunterricht und das Elend der Musikprogramme im deutschen Fernsehen kennt, kann nur betreten schweigen. Denn dem Volk sind die Lieder längst ausgegangen.

Ein Zufall ist das nicht. Das Zerstörungswerk des Faschismus hat die kulturelle DNS der Deutschen verheert. Nachdem die Nazis das deutsche Liedgut und Singen als "Gemeinschaftsstifter" und "Wertevermittler" missbraucht hatten, wurde nicht nur der Missbrauch angeprangert, sondern das Missbrauchte gleich mit. Die Thesen von Theodor Adorno oder des Musikwissenschaftlers Walter Gieseler, wonach "Singen nicht nur nicht notwendig" ist, "sondern auch schädlich, da zur Manipulation führend", hielten viele für richtig.

Die Volksmusik geriet unter Generalverdacht. Ein unsäglich blöder Slogan damals lautete "Singen macht dumm, viel Singen macht noch dümmer". Trotzdem zogen die politisch kruden Thesen Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre auch in die Lehrpläne der Schulen ein. Mundorgel und Zupfgeigenhansl wurden zu Ladenhütern, nur ein paar unverdrossene, alternative Liedermacher hielten dagegen.

Doch mehr und mehr war Schweigen. Was die 68er nicht beseitigen konnten, erledigten danach vermeintliche Freunde der Volksmusik, gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Die weichgespülten Klänge von "Musikantenstadeln" oder "Musikantenscheunen" diskreditierten das Volkslied, obwohl dieses in den Sendungen stets ein Nischendasein führte. Volkstümliche Herz-Schmerz-Schlager regieren im Rundfunk - und ruinieren mit ihren tumben Tönen den Ruf des Volksliedes. Statt Schubert oder Silcher dominierten Hansi Hinterseer und Florian Silbereisen das Programm, statt Seele gab es Kitsch, statt Botschaft Leere.

Wer will da noch singen - und das in der Öffentlichkeit? Kantoren klagen, dass in den Kirchen beim Gotteslob die Gläubigen betreten schweigen. Erst jenseits der 1,3-Promille-Grenze oder mit Rückendeckung von Zehntausenden im Fußballstadion fallen die Hemmungen zu singen. Doch der Kanon wird kleiner, wer nicht singt, kennt keine Lieder - und wer keine Lieder kennt, singt auch nicht.

Wie sagte der Dichter Friedrich Hölderlin: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Ein Requiem käme verfrüht, der Wind dreht sich. Kanzlerin Angela Merkel, ein Sensor für Stimmen und Stimmungen, macht sich öffentlich für das Volkslied stark, Plattenkonzerne und Künstler wagen sich plötzlich mit klassischem Liedgut an den Markt - und finden unerwartete Resonanz.

Am Donnerstag hat auch die Deutsche Nationalstiftung ein Zeichen gesetzt: Die Stiftung, 1993 von Helmut Schmidt und einigen seiner Freunde wie Michael Otto, Kurt Körber, Gerd Bucerius und Hermann Josef Abs in Weimar gegründet, vergibt den diesjährigen Deutschen Nationalpreis an Canto Elementar. Ausgezeichnet wird die einfache wie brillante Idee, mit Singpaten die stumme Generation zu übertönen: Canto Elementar mit Präsident Hermann Rauhe schickt Senioren überall im Land in die Kindergärten, um dort gemeinsam Volkslieder zu üben und zu singen.

Halten wir es mit Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der sich mit Musik bestens auskennt: "Lasst uns dafür sorgen, dass in unseren Wohnungen und in unseren Schulen gesungen und Musik gemacht wird, auf dass die Nachwachsenden lernen, daran Freude zu haben. Es wird Zeit für eine Sprache, die unsere Seele ohne Umwege erreicht."

Vielleicht singen ja bald auch wieder deutsche Studenten.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt