Alte Plakate, Konzertankündigungen: An voll geklebten Hauswänden findet die Künstlerin Friederike Lydia Ahrens die Zutaten für ihre Collagen.
Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der 30. Folge vor einer Woche: Elke Walter, Designerin
Wenn unzufriedene Unternehmensberater, missgestimmte Architekten oder nicht ausgefüllte Agenturbesitzer Rat bei einem Coach suchen, der mit ihnen die nächsten Karriereschritte plant, dann wundert das heutzutage niemanden mehr. Aber dass eine Künstlerin diesen Schritt wählt, ist schon ungewöhnlich. Vor allem wenn sie das tut, weil sie zu viel kann.
So war es jedenfalls bei Friederike Lydia Ahrens. Vor 2007 bezeichnete sie sich als Bildhauerin, töpferte aber auch, formte Skulpturen, malte mit Acrylfarben, zeichnete Akte. Eine vielseitige Künstlerin. Zu vielseitig, wie ihr Coach vor fünf Jahren befand. "In der Kunst ist es wichtig, dass man sofort eine unverwechselbare Handschrift erkennt", sagt Ahrens. "Nach der Beratung habe ich mich entschlossen, nur noch abzureißen." Abreißen? Das ist nun ihre Kernkompetenz. Das, was sie und ihre Kunst ausmacht, was sie noch bekannter gemacht hat. Die 58-Jährige klebt Collagen. Mal großformatig über mehrere Meter, dann schmal und hoch oder handliche Quadrate.
Die einzelnen Stücke, Papierschnipsel, sind ihre Zutaten, die sie an den Wänden der Stadt findet. Hier reißt sie alte Plakate, vergangene Konzertankündigungen, Sprüche, politische Aussagen und die unterschiedlichsten Bilder ab. Um diese später auf ihren Collagen neu zu ordnen und zusammenzufügen. Ahrens, die Abreißkünstlerin. "PlacArt" hat sie ihre außergewöhnliche Kunstrichtung genannt. "Damit fange ich den Stadtteilgeist ein und bewahre das Vergängliche", beschreibt sie ihre Intention. Auf ihren Leinwänden kann der Betrachter alsdann nachvollziehen, was so los warin Hamburgs Kiezen.
Ihre liebsten Jagdgebiete in Hamburg sind St. Pauli, der Hafen und die Schanze. Dann zieht sie mit einer großen Tasche und Handschuhen los, um an Wänden, Laternenpfählen oder Zäunen abzureißen - "neuen Stoff zu holen". Dort findet sie politisch geprägte Botschaften, Flyer gegen die fortschreitende Gentrifizierung, Parolen gegen Rechtsextremismus, gepaart mit Hinweisen auf Musikveranstaltungen und Fußballtreffs. Im Univiertel ist weit weniger los, da hängen Einladungen zu Meditationsseminaren neben dem angebotenen Nachhilfekursus für Statistik. Ähnlich verhält es sich mit Winterhude oder Blankenese.
"Ich reiße am meisten in Hamburg ab, aber ich liebe Städtetouren, und wenn ich in Berlin, Mailand, Neapel oder bald in London bin, dann komme ich immer wie automatisch in die wildesten Ecken", sagt Ahrens, deren Kunstwerke mittlerweile in den bordeigenen Galerien verschiedener Aida-Kreuzfahrtschiffe verkauft werden und von denen 22 in der Haupttribüne des Millerntor-Stadions hängen.
"Mich zieht es beim Arbeiten da hin, wo die Huren stehen, wo es olle Kneipen gibt, es dunkel ist", sagt sie. Am besten kann sie sammeln, wenn es regnet, dann löst sich das Papier besser. Dabei passiert es schon manchmal, dass die Menschen sich bei ihr bedanken, dass sie "sauber mache" und der Dreck wegkomme. Darüber kann Ahrens herzhaft lachen.
Sie lernte Hamburgs düstere, nicht kommerzielle Ecken schon währendihres Studiums an der Hochschule für bildende Künste Hamburg kennen - und lieben. Für sie gibt es keine Alternative, ihr Leben soll in Hamburg spielen. Auch wenn sie es in Berlin vielleicht einfacher haben könnte, ein neues Atelier zu finden. "Vor einem Jahr musste ich aus meinen Räumen an der Hoheluftchaussee raus und habe seitdem nichts Passendes gefunden, was bezahlbar und hell ist", sagt sie. "Aber ichlasse mich nicht aus Hamburg vertreiben, ich will in der Mitte der Stadtarbeiten und einen Treffpunkt für andere Künstler schaffen." Dafür "krabbelt" sie durch Hinterhöfe, hält Ausschau nach luftigen Lofts, ebenerdigen Räumen - Platz für sich und ihre gesammelten Werke. "Da lerne ich ganz neue Ecken kennen, außerdem hält das jung und lebendig."
Ahrens, die stolz von ihren beiden erwachsenen Söhnen Philip und Julian erzählt, ist eine quirlige, wache Frau mit kurzen, rotblonden Haaren, bei der die Ideen für neue Arbeiten so schnell kommen, wie sie ihre Sätze formuliert. Dabei wirkt sie weder hektisch noch aufgesetzt, vielmehr nimmt sie den Besucher in ihre bunte Welt mit.
Dazu passt ihre verwinkelte Dachgeschosswohnung an der Eppendorfer Landstraße, die sie aufgrund ihrerAtelierlosigkeit momentan auch zum Arbeiten nutzt. Roter Teppichboden, bordeauxfarbene Küchenzeile, alles geschmückt mit eigenen Kunstwerken wie einer dunkelgrauen Keramikvase, steinernen Skulpturen, geklebten Leinwänden und Holzkunst von Kollegen. Vor neun Jahren zog sie hierher, in die Stadt ihrer Studentenzeit.
Davor hatte sie 22 Jahre im schleswig-holsteinischen Tornesch gewohnt, Familienidylle mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Eine totale Umstellung für die aufgeschlossene Kreative aus der Großstadt. "Das war zu Beginn ganz furchtbar, ich kannte niemanden, hatte keine Kontakte. Aber durch den Kindergarten und meine Ausstellungen habe ich viele Freunde gefunden, die mittlerweile auch wieder in Hamburg leben", sagt Ahrens. "Der Umzug aufs Land, ja, das war, wie das Leben so spielt. Es bot sich damals an, die Kinder konnten im Grünen aufwachsen. Für diese Zeit war es genau richtig."
Auch beruflich schöpfte sie die neue Lebenssituation voll aus, eröffnete ihre eigene Hausgalerie mit Keramikwerkstatt. Doch nachdem ihre Söhne Abitur gemacht hatten, der Hund gestorben war und sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, zog es sie schnurstracks zurück nach Hamburg-Eppendorf. Ist es nicht aber ein Gegensatz,im gutbürgerlichen Eppendorf zu leben, wenn doch das Künstlerherz fürSt. Pauli schlägt? "Vielleicht schon", meint Ahrens, "hier habe ich mich einfach gleich wieder wohlgefühlt, weil ich in diesem Stadtteil auch als Studentin gewohnt hatte. Jetzt könnte ich mir aber schon sehr gut vorstellen, in Richtung Schanze zu ziehen, wo das Leben lauter tobt."
Denn generell unterwegs und auf der Walz zu sein, das ist Teil ihres Berufs: Ausstellungen anderer besuchen, zum Künstlerstammtisch gehen, Workshops anbieten oder mitmachen, sich bei Galeristen vorstellen. Wobei sie sich beim letzten Punkt öfter wie eine Schauspielerin oder ein Model fühlen kann. Dann, wenn sie nach der Bewerbung zu hören kriegt: abgelehnt, zu alt! Denn nicht nur in Berufen, bei denen das äußere Erscheinungsbild eine tragende Rolle spielt, gibt es die natürliche Selektion aufgrund des fortschreitenden Alters, besonders bei Frauen."Galeristen pushen und fördern lieber junge Künstler, bauen die dann zu Hoffnungsträgern auf, um später daran zu verdienen", sagt sie und klingt dabei eher verwundert und ungläubig als in der eigenen Eitelkeit verletzt. "Irgendwo gab es mal einen Artikel über mich mit der Überschrift: 'Alte Frau macht junge Kunst', das fand ich schon witzig", sagt sie, und man glaubt es ihr. Doch die Einstellung der Galeristen, die teiltsie naturgemäß in keinem Fall. "Ich verstehe das nach wie vor nicht, aber der Trend ist eindeutig so." Ein Grund mehr für Ahrens, so schnell wie möglich ein eigenes Atelier zu finden, in dem sieihre Kunst selbst ausstellen und verkaufen kann. Ihre Werke sind durchaus erschwinglich: Bei 300 Euro für kleine Collagen geht es los.
Im Gegensatz zu anderen Kreativen verspürt sie niemals Traurigkeit, wenn sie ein Bild oder eine Collage verkauft. "Das ist für mich doch schön, ich brauche ja auch den Raum, weil ich so schnell arbeite und immer wieder Ideen habe, die ich umsetzen will."
Die Kunst, ihre Arbeit, ist für Friederike Ahrens Leidenschaft, Antrieb, Lebensinhalt. Daneben gibt es wenig, was nicht in irgendeiner Form damit zu tun hat. Außer der Pilatesstunde einmal die Woche im Eimsbütteler Turnverband, "nicht in einer von diesen Schickeriabuden", sagt sie, "dieses Training ist mir heilig."
Ebenso achtet die bekennende "Sommer-Radfahrerin" auf ihre gesunde Ernährung, schon immer. "Auch als die Kinder klein waren, gab es bei uns so gut wie nie Fertiggerichte, ich habe ja von zu Hause aus gearbeitet, deshalb konnte ich gut für sie Mittagessen kochen", sagt Ahrens. Und ihre Söhne haben das von ihr übernommen, auch sie legen Wert auf gute Lebensmittel, wenn sie gemeinsam für Freunde kochen. Am liebsten Fisch, den liebt Friederike Ahrens. Und noch viel mehr die kleinen Oasen in der Stadt, die sie bei ihren Abreiß-Streifzügen aufspürt: einen kleinen Imbiss, der jeden Tag ausschließlich Backfisch und Bratkartoffeln verkauft, oder die Bude in Elbnähe, wo es fangfrischen Fisch gibt. "Schreiben Sie bloß nicht die Adressen, dann sind es bald keine Geheimtipps mehr", sagt sie und lacht - laut und rau.
Und man merkt: Die Frau gehört nach Hamburg. Nur hierher.
Friederike Lydia Ahrens gibt den roten Faden an Petra Fischbach weiter. Sie ist seit 2002 Geschäftsführerin des Hospizes Hamburg Leuchtfeuer, Vorsitzende der Stiftung und des 2007 gegründeten Leuchtfeuer-Lotsenhauses. "Ich bewundere sie", sagt Ahrens. "Es beeindruckt mich, mit welcher Kraft und Liebe sie diese anspruchsvolle Aufgabe meistert."