Neustadt. Rücksichtnahme spielt in seinem Leben anscheinend eine ganz große Rolle. Eine Tugend, wichtig und erstrebenswert - zumindest was seine Mitmenschen betrifft und vor allem, wenn es um deren Verhalten im Straßenverkehr geht. Dann sieht er es gern, wenn die anderen sich zurücknehmen und ihm den Vortritt und damit auch die Vorfahrt lassen. Doch bei dem Mann selbst gehört jene von anderen gewünschte Rücksichtnahme offenbar nicht zu den ganz großen charakterlichen Stärken. Denn wenn es nicht so läuft, wie Richard H. es sich vorstellt, scheint der 45-Jährige einen bedenklich kurzen Geduldsfaden zu haben - und dann auch auszurasten.

So soll es jedenfalls an einem Tag im Februar vergangenen Jahres gewesen sein, als der gelernte Industriekaufmann mit seinem Wagen von einem Parkplatz auf eine Hauptverkehrsstraße einscheren wollte und ihm ein anderer Verkehrsteilnehmer nicht den Vortritt ließ. In seiner Verärgerung soll Richard H. gegen die Insassen des anderen Autos heftig gestikuliert haben. Als die Beifahrerin ihm daraufhin den Mittelfinger gezeigt habe, habe er ihr in aggressivem Ton gedroht, ihr "gehörten die Finger abgeschnitten". Er sei dann ausgestiegen und habe gegen die Tür des anderen Fahrzeugs getreten, sodass eine Beule und ein Schaden von mehr als 1100 Euro entstanden.

Wegen Sachbeschädigung hatte das Amtsgericht deshalb bereits 320 Euro Geldstrafe und einen Monat Fahrverbot gegen den Mann verhängt. Doch der hält sich für unschuldig und ging in Berufung, sodass der Fall jetzt in zweiter Instanz vor dem Landgericht verhandelt wird.

Energisch tritt der kräftig gebaute Angeklagte hier auf, mit Verve und vielen Worten vertritt er seine Position. Obwohl seinerzeit eine Ampel in der Nähe für den fließenden Verkehr Rot zeigte, habe ein anderer Fahrer ihn nicht vorlassen wollen. Das habe er als Provokation empfunden. Es habe Blickkontakt und wütende Gesten gegeben, die Beifahrerin in dem anderen Wagen habe ihm dann "den Stinkefinger" gezeigt. Als die Ampel auf Grün sprang, habe er versucht loszufahren, doch der Mann im Golf sei schneller gewesen. "Er blockierte mein Fahrzeug. Er war verärgert, ich war verärgert." Alle Beteiligten seien ausgestiegen, die Frau habe ihn übel beleidigt und provoziert. Schließlich habe man sich geeinigt, die Polizei zu rufen. Doch davon, dass er der Frau gedroht habe, ihr den Finger abzuhacken, könne keine Rede sein. Und auch der Tritt sei offenbar ein Produkt der Fantasie des Pärchens, mit dem er in Streit geriet, insistiert Richard H.

Doch sein Kontrahent Matthias K. ist sich sicher, dass es jene Tätlichkeiten sehr wohl gegeben hat. "Ich wollte ihn nicht vorlassen, aber er drängte sich mit seinem Wagen dazwischen", erinnert sich der 27-Jährige an die Begegnung mit dem Angeklagten. "Er war sehr aufgebracht und schimpfte. Alle seien ausgestiegen, schließlich habe der Angeklagte gegen die Tür seines Autos getreten. "Vorher gab es dort definitiv keine Beule." Die Bemerkung, man müsse ihr den Finger abhacken, "habe ich als Bedrohung empfunden", ergänzt seine Freundin als Zeugin. Sie habe auch Sorge gehabt, dass der Angeklagte tätlich werden könnte, beteuert sie.

Bestätigt wird die Aussage des Pärchens von einem unbeteiligten Zeugen. "Er wollte vom Parkplatz auf die Hauptstraße einbiegen, in dem Moment kam der Golf, Bremsen quietschten, er hat sich die Vorfahrt erstritten", erinnert der Zeuge das Verhalten des Angeklagten. Der Mann sei "wie von der Tarantel gestochen ausgestiegen, er trat gegen die Tür und hat gepöbelt und gepöbelt". Er habe den Mann noch zur Rede gestellt und ihm seine Einschätzung der Dinge klargemacht, erzählt der Zeuge. "Ich sagte: Mein Freund, hättest du das bei mir gemacht, hätte es Backenfeuer gegeben."

Das Gericht braucht nach der Beweisaufnahme nur wenige Minuten Beratungszeit, um zur Entscheidung zu kommen: Die Berufung wird verworfen und das Amtsgericht-Urteil von 320 Euro Geldstrafe gegen Richard H. bestätigt. "Das ist keine schöne Sache, weil sich alle etwas blöd verhalten haben. Aber manche eben noch etwas blöder", kommentiert der Kammervorsitzende die Entscheidung. "Es ist einfach zu erkennen: Wer vom Parkplatz auf die Straße fährt, ist wartepflichtig." Genauso simpel sei der Umgang, wenn jemand provoziert oder beleidigt werde. "Wer den Mittelfinger gezeigt bekommt, schreibt das Kennzeichen auf und zeigt das an. Aber er droht nicht, ihn abzuhacken und versetzt nicht einen Tritt gegen die Tür. Wo leben wir denn? Es ist von hier nur ein ganz kurzer Schritt ins Krankenhaus. Es hätte weiter eskalieren können."

Wenn Richard H. in ähnlicher Situation wieder so heftig reagiere, kündigt der Richter an, "dann werden Sie sich von Ihrem Führerschein dauerhaft verabschieden müssen".