Blankenese. Eigentlich sind sich die beiden Herren aufs Wunderbarste einig. Der eine bezeichnet die Angelegenheit als "Nichtigkeit". Der andere spricht von einer "Lappalie". Nicht der Rede wert also, könnte man meinen. Und doch will sich zwischen diesen beiden Männern, die vordergründig so vernünftig und beschwichtigend wirken, keinerlei Harmonie einstellen. Im Gegenteil, die Fronten sind heillos verhärtet. Nicht vorführen lassen, nur ja nicht nachgeben, scheint auf beiden Seiten die Devise. Und so muss ein Vorfall, der scheinbar so einträchtig das Etikett "Banalität" verdient hätte, doch in einem Strafprozess geklärt werden.

Auslöser für den folgenschweren Zwist ist ein Zusammentreffen an einem Oktobertag vor knapp anderthalb Jahren. Beleidigung wird dem Rentner Joachim D. im Verfahren vor dem Amtsgericht vorgeworfen. Laut Anklage hat er einen Polizeibeamten, der ihn darauf hinwies, dass er nicht bei Rot über die Straße gehen dürfe, abgekanzelt mit den Worten: "Sie können mich mal." Zudem habe der 72-Jährige den Ordnungshüter lautstark als "Lügner" bezeichnet, so die Anklage weiter.

Joachim D. ist keiner, der sich durch derartige Vorwürfe einschüchtern lässt. Lebhaft, eloquent und mit großen Gesten schildert der Angeklagte seine Sicht der Dinge. Schon früher sei ihm der Polizist unangenehm aufgefallen, als dieser ihn wegen einer Kleinigkeit "angeschnauzt" habe. Am Tattag habe er dann erlebt, wie der Beamte einen jugendlichen Radfahrer "zur Schnecke gemacht hat. Der weinte schon." Da habe er sich eingemischt und dem Jungen geraten, sich aus dem Staub zu machen.

"Die Wut und Enttäuschung des Polizisten fokussierte sich dann auf mich", berichtet er. Er habe sich indes zum Gehen gewandt und die Straße überquert. "Die Ampel zeigte definitiv Grün. Ich müsste ja schwachsinnig sein, wenn ich in Gegenwart eines Polizeibeamten bei Rot gehe", echauffiert sich Joachim D. vor dem Amtsrichter. "Da fing er mich ein und umklammerte mich. Er behauptete, es sei Rot. Er hing an mir wie ein kleines Kind, dem die Mutter beim Einkauf die Bonbons verweigert", spottet der Angeklagte. "Es war so peinlich!" Es sei eine Diskussion entbrannt, in deren Verlauf er "sicher mal Lügner gesagt habe, weil er behauptet hat, ich sei bei Rot über die Kreuzung gegangen. Und bestimmt habe ich auch gesagt: 'Sie können mich mal.'" Wenig später habe der Beamte einen Streifenwagen gerufen. "Die müssen geglaubt haben, da ist eine Massenschlägerei im Gang - mit Mord und Totschlag." Der Polizeibeamte Kurt G. indes hält die Maßnahmen für gerechtfertigt. Erst habe der Angeklagte sich eingemischt, als er den Jugendlichen überprüfen wollte. Und dann habe er auch noch bei Rot die Straße überqueren wollen. "Ich wies ihn darauf hin, aber er sagte, das interessiere ihn nicht. Da habe ich ihm eine Ordnungswidrigkeitsanzeige angedroht und wollte die Personalien feststellen."

Das habe der Rentner aber verweigert und sei einfach weitergegangen. "Da habe ich mich ihm in den Weg gestellt und auch die Hand auf den Arm gelegt, aber ihn nicht weggerissen." Schließlich habe er, als der Mann sich weiterhin weigerte, sich auszuweisen, einen Streifenwagen angefordert. "Er hatte eine laxe Einstellung zu Verkehrsregeln und benahm sich provokant. Da lasse ich mich nicht vorführen. Die Schmerzgrenze war überschritten. Aber eigentlich war die ganze Sache eine Nichtigkeit", winkt er ab. "Dass es so weit kommen musste, das verstehe ich nicht." Joachim D. stimmt ihm immerhin in diesem Punkt vorbehaltlos zu. "Eine Lappalie, und nun sitzen wir hier."

Auch ein Zeuge des Disputs kann die Aufregung nicht nachvollziehen. "Was mich fasziniert und zugleich erschüttert hat, war, dass man wegen Nichts so einen Streit aufzieht", erklärt der 53-Jährige. Die beiden Männer hätten sich regelrecht "ineinander verhakt", erinnert sich der Zeuge. Der Polizist habe den Mann partout daran hindern wollen, die Straße zu überqueren. "Das war ein Gehen und Ziehen." Er könne sich aber eindeutig erinnern, dass der Angeklagte bei Grün ging. Er sei sich auch deshalb so sicher, weil andere Passanten mit ihm die Straße überquert hätten.

Schließlich spricht der Amtsrichter Joachim D. vom Vorwurf der Beleidigung frei. Nach der Beweisaufnahme könne man nicht ausschließen, dass der Angeklagte bei Grün auf die Straße getreten sei, begründet er sein Urteil. Insofern sei die Aussage "Sie können mich mal" auch als Aufforderung zu verstehen: "Lassen Sie mich in Ruhe." Und die Bemerkung, der Beamte sei "ein Lügner", wenn er behaupte, der Passant sei bei Rot gegangen, "hat keinen ehrabschneidenden Charakter".

Der Polizist verlässt nach der Urteilsverkündung still und leise den Saal. Joachim D. indes wirkt hoch zufrieden, geradezu aufgekratzt. Indirekt profitiert von dem Eklat hat jedoch ein anderer: der Zeuge, der den Streit beobachtet hatte. Er nutze die Auseinandersetzung und das daraus resultierende juristische Nachspiel mittlerweile bei Seminaren, die er als Unternehmensberater gebe, hat er erzählt. "Es ist ein typisches Beispiel für mich, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen."

Es war also immerhin ein Lehrstück, das hier gegeben wurde.