Deutschlands Wirtschaft leidet unter dem Schwenk der Regierung - noch immer fehlt ein Masterplan

Der Entschluss war historisch - 513 Abgeordnete von Union, FDP, SPD und Grünen besiegelten am 30. Juni 2011 den Ausstieg aus der Atomkraft - und wussten eine breite Mehrheit der Bevölkerung, Medien und Meinungsmacher hinter sich. Ein gutes halbes Jahr später ist zwar der große von den Kritikern prognostizierte Stromausfall ausgeblieben, dennoch drängt sich mehr und mehr der Eindruck auf, der Ausstieg könnte ein parlamentarischer Blackout gewesen sein.

Eine erste Zwischenbilanz fällt mehr als mau aus - besonders für die Energieversorger. Nun haben die Konzerne in den vergangenen Jahren kaum eine Chance ausgelassen, sich unbeliebt zu machen: Sie erhöhten über Gebühr die Strompreise, vertrödelten den Einstieg in alternative Energien und verjubelten Milliarden für überflüssige Übernahmen. Nur kann das kein Grund sein, einen volkswirtschaftlich zentralen Zweig zu brechen: Auch Energieversorger dürfen Investitionssicherheit verlangen und müssen vor sprunghaften Entscheidungen (zwischen der Laufzeitverlängerung und dem Atomausstieg lagen gerade einmal acht Monate!) geschützt sein. Die Stromkonzerne müssten eigentlich massiv Geld in Ökoenergien stecken. Doch die Energiewende hat sie dramatisch geschwächt, die Börsenkurse brachen bis zu 50 Prozent ein, nun suchen sie ihr Heil in einem massiven Stellenabbau. Europas Energiekommissar Günther Oettinger schlug jüngst vor, RWE und E.on zu fusionieren - während andere Länder nationale Champions aufbauen, schrumpft Deutschland seine Riesen auf Zwergenniveau.

Das alles wäre nicht so dramatisch, wenn zugleich aus den Ökozwergen neue Weltkonzerne wüchsen. Zwar träumt Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) schon lange von Deutschland als "Weltmarktführer im Bereich der erneuerbaren Energien", doch Zeitungsleser wissen längst mehr. Die Zukunftsbranchen sehen derzeit verdammt alt aus. Siemens und Bosch rechtfertigten ihre schwachen Zahlen in der vergangenen Woche mit Problemen bei den erneuerbaren Energien. Gewinnwarnungen, wohin man schaut: Der dänische Weltmarktführer für Windanlagen Vestas entlässt nun 2300 Beschäftigte und damit fast jeden zehnten Mitarbeiter, die Hamburger Nordex trennte sich von 260 Arbeitskräften.

Noch grausamer als die Turbinenhersteller leiden Solarfirmen unter Überkapazitäten, Preisverfall und Finanzierungsproblemen. Die Bitterfelder Q-Cells war einst Solarzellenhersteller Nummer eins und auf dem Sprung zum DAX-Konzern - inzwischen ist die Aktie von mehr als 75 Euro auf 37 Cent gefallen. Hoffnungsträger wie Solon und Solar Millennium sind insolvent, viele andere deutsche Firmen kämpfen ums Überleben. Längst dominieren die Chinesen den Weltmarkt, rund 80 Prozent der Solarmodule stammen aus Asien.

Großzügige Wirtschaftsförderung erhalten die Chinesen ausgerechnet vom deutschen "Erneuerbare Energien-Gesetz". 2011 zahlten die Haushalte 3,5 Cent pro Kilowattstunde vor allem für die Förderung neuer Photovoltaikanlagen - für einen Durchschnittshaushalt waren das 125 Euro. Sechs Milliarden Euro fließen in eine Technik, die 3,5 Prozent der Stromerzeugung ausmacht.

Üppig alimentiert schrauben die Deutschen neue Anlagen aufs Dach oder stellen Windmühlen ans Watt, doch die zentrale Frage bleibt unbeantwortet: Wie sollen die Netze schnell und angemessen ausgebaut werden? Derweil ist völlig fraglich, wie beispielsweise die Gigawatt der Windparks auf See in den Süden geleitet werden sollen. Innerhalb von 20 Jahren ist es beispielsweise nicht einmal gelungen, das Hochspannungsnetz zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg zu schließen. Bürokratie und Naturschutzauflagen verhinderten die Trasse. Es wird gebremst, gebummelt, protestiert und prozessiert. Die Energiewende stockt. Und auch beim Energiesparen warten Experten bislang vergebens auf Signale aus Berlin. Der Bund der Deutschen Industrie warnt bereits: "Zu den größten hausgemachten Risiken für Wachstum und Beschäftigung zählen die Energiewende und ihre unzureichende Umsetzung."

Große Entscheidungen erfordern große Schritte, kein Klein-Klein. Doch die Politik wirkt erschöpft von ihrem tollkühnen, vermutlich eher tollen (im ureigentlichen Wortsinn) Beschluss zum Atomausstieg. Schwarz-Gelb beharkt sich öffentlich wie in der Solarförderung, sendet widersprüchliche Signale oder versäumt den Abbau bürokratischer Hindernisse. Aus dem Ausstieg der Deutschen könnte so schnell der Abstieg Deutschlands werden.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt