Ein Spielzeugauto und der Kissenbezug einer Puppenwiege waren alles, was von Angela Lunckshausens Elternhaus übrig blieb

Rellingen. Bereits am Mittag des 16. Februar 1962 merkte die kleine Angela, dass die Natur aus den Fugen geriet. Den Weg von ihrer Schule am Rotenhäuser Damm zum Elternhaus im Kleingartenverein Alte Landesgrenze über den Ernst-August-Kanal schaffte die Achtjährige wegen des Sturms nur mit der couragierten Hilfe eines Erwachsenen. "Ich musste mich mit aller Kraft am Geländer festhalten, um nicht weggeweht zu werden", erinnert sich Angela Lunckshausen an diese dramatischsten Stunden ihres Lebens. Heute wohnt sie mit ihrem Ehemann weit entfernt von der Elbe in einem schönen Reihenhaus in Rellingen. Doch ihre Erlebnisse von vor einem halben Jahrhundert sind unverändert präsent. Nachdem Angela zu Hause eingetroffen war, nahm das Unheil seinen Lauf. Eine gewaltige Böe deckte das Dach des Nachbarhauses der Gonschiors, so ihr Mädchenname, komplett ab. Und obwohl es sich bei ihrem Elternhaus um ein massives Steinhaus handelte, machte sich ihr Vater Hubert, ein Schiffbauer, Sorgen, nachdem die erste Sturmflutwarnung am Abend im Radio durchgegeben wurde. Würde der Deich direkt nebenan halten? Noch fuhr ja die Straßenbahn in Richtung Freihafen darauf ...

"Kurz vor Mitternacht wurden wir durch Hilferufe unserer Nachbarn aus dem Schlaf gerissen", erinnert sich Angela Lunckshausen. "Da standen die Gärten ringsum schon unter Wasser."

Da sich die Haustür wegen des Hochwassers nicht mehr öffnen ließ, kletterte die vierköpfige Familie aus dem Fenster, um die höher gelegene Straße zu erreichen. Angela saß auf den Schultern ihres Vaters, der Bruder auf denen der Mutter Almar. Beide Kinder trugen wegen der Eile noch ihre Schlafanzüge und waren barfuß. "Trotz des tosenden Windes hörten wir laute Schreie durch die Nacht gellen", erzählt Angela Lunckshausen mit leiser Stimme. Mit buchstäblich letzter Kraft erreichte die Familie eine Kneipe am Vogelhüttendeich. Die feiernden Gäste hatten das Drama draußen gar nicht realisiert. Minuten später schoss jedoch die Flut durch die Straße. Auch der Kneipenkeller lief voll - und das Wasser stieg immer weiter. Jetzt mussten alle raus. Die Familie Gonschior suchte verzweifelt einen Hauseingang - inmitten treibender Ölfässer und Trümmerstücke.

"Doch da weder Kirchenglocken läuteten noch Sirenen heulten, war auch niemand auf die Katastrophe aufmerksam gemacht geworden", sagt Angela Lunckshausen. Die Menschen in den Hochgeschosswohnungen schliefen friedlich, hörten das Klingeln der Gonschiors nicht - oder wollten es vielleicht nicht hören. In der Fährstraße entdeckte Angelas Vater endlich ein defektes Türschloss - das Treppenhaus war ihre Rettung. Schließlich fand die erschöpfte Familie in der dritten Etage bei den Besitzern eines Möbelgeschäfts Unterschlupf.

Am Morgen des 17. Februar blickten sie von oben auf einen riesigen See hinunter, auf Autos, die bis zum Dach im Wasser standen, auf Menschen, die in Schlauchbooten paddelten. "Am zweiten Tag wollten meine Eltern nach unserem Haus zu sehen", fährt Angela Lunckshausen fort. "Aber es war nicht mehr da." Nur wenige Minuten nach ihrer überstürzten Flucht war der Deich genau hinterm Haus gebrochen und hatte es mitsamt ihrem gesamten Besitz fortgespült. Die Nachbarn waren davon ausgegangen, dass die Familie ertrunken war. So wie ein älteres Nachbarehepaar, so wie ein Retter beim Einsatz dort, so wie Evelyn Busch aus der dritten Klasse in Angelas Schule ...

Später fanden sie im Schlamm noch ein Spielzeugauto ihres Bruders sowie einen Kissenbezug ihrer Puppenwiege. Mehr hatte ihnen die Flut nicht gelassen. Dafür waren sie noch am Leben. Manchmal, sagt Angela Lunckshausen flüsternd, höre sie beim Betätigen der Toilettenspülung die Hilfeschreie von damals.