Die Abendblatt-Serie zu den größten Problemen und Krankheiten der jungen Hamburger geht zu Ende. Fest steht: Es muss viel getan werden.

Hamburg. In der Medizinmetropole ist die Behandlung der klassischen Kinderkrankheiten die kleinste Übung für Ärzte wie Dr. Hans-Ulrich Neumann oder Dr. Stefan Renz. Doch in ihren Praxen geht es immer seltener um Masern, Husten oder kleine Verletzungen. Die wahren Kinderleiden sind oft ganz andere. Sie entstammen direkt dem prallen Leben der Millionenstadt.

Wenn sich Neumann oder Renz die Kinder ansehen, schleppen diese einen ganzen Rucksack von Problemen und Auffälligkeiten mit, die sich nicht in wenigen Minuten erkennen und therapieren lassen. Ob Ärger in der Schule, Leistungsdruck von Eltern und Gesellschaft, Stress mit Freunden in der realen und der virtuellen Welt - all das wird beim Kinderarzt abgeladen. Und die Leiden von Mama und Papa dazu. Dieses neue Phänomen diskutierten beim Gesundheitsgipfel des Hamburger Abendblatts die Kinderärzte Neumann und Renz sowie Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort (Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf), Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD), AOK-Vorstand Rolf Buchwitz sowie Hans Fischer, Lehrer am Lokstedter Corvey-Gymnasium.

Kinderarzt Renz, der auch Vorsitzender des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte ist, sagte über die "Trends" bei seinen kleinen Patienten: "Wir beobachten zunehmend Aufmerksamkeitsstörungen, Übergewicht, Bewegungsmangel, Konzentrationsmängel, also Dinge, die auch sehr den erzieherischen und den schulischen Bereich betreffen." Renz nannte eine neue Studie der Barmer GEK, die bei jedem dritten Kind im Vorschulalter eine Sprachentwicklungsstörung festgestellt hat. Bundesweit liege der Anteil der Kinder mit Sprech- und Sprachstörungen bei 10,3 Prozent, hat Deutschlands größte Krankenkasse festgestellt. Jungen seien stärker betroffen als Mädchen. Jeder fünfte Fünfjährige erhalte eine logopädische Therapie verschrieben.

Nach Ansicht von Neumann gibt es einen Transfer von gesellschaftlichen, erzieherischen Aufgaben in die Medizin hinein. "Der Grund dafür ist, dass die Erziehungsmöglichkeiten für Eltern heute nicht mehr so gut sind." Kinderpsychiater Schulte-Markwort hat festgestellt, dass manche Eltern heute deutlich besorgter sind als früher. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eklatante Unterschiede zwischen wohlhabenderen Stadtteilen und den ärmeren, mit einem hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Renz sagte, das sei zum Teil auch kulturell bedingt. In manchen türkischen Haushalten sei traditionell verankert, für Erziehung und Schule sei die Schule zuständig. "Und in den Elbvororten übt man Druck auf den kleinen Alexander aus, damit er später an der Bucerius Law School angenommen wird." Laut Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks sind Eltern oft verunsichert. "Die gehen mit dem ersten Fieber der Kinder zum Arzt und wissen nicht, dass sie oft mit einem Wadenwickel auch weiterkommen. Unter Umständen sind das aber dieselben Familien, die ihr Kind in der Schule extrem ehrgeizig begleiten und dann auch sehr schnell beim Kinderarzt sind und sagen, das Kind ist nicht aufmerksam. Da muss ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom vorliegen und jetzt braucht es Ritalin."

Die Senatorin meinte, dass Eltern in ihrer Erziehungskompetenz unterstützt werden müssen. Deswegen sei Hamburg dabei, das System der Familienhebammen auszubauen. Doch das wirft die Frage nach den Kosten auf. Denn die Ausgaben im Gesundheitswesen steigen seit Jahren stetig.

AOK-Vorstand Buchwitz sagte, seine Kasse fördere die Weiterbildung von Kita-Erzieherinnen in der Gesundheitserziehung. In Hamburg würden derzeit 1,3 Millionen Euro in die Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen gesteckt. "Wir fördern Projekte, mit denen Schulen zur Bewegung der Kinder und zur Gesundheitserziehung beitragen. Außerdem regen wir Vereine an, mit Schulen zusammenzuarbeiten, eine Patenschaft einzugehen. Den Kindern fehlt oft die Zeit, das Vereinstraining zu besuchen, weil sie so lange in der Schule sind. Warum nicht zwischen zwei und drei Uhr ein Handballtraining machen, und danach geht es weiter mit dem Unterricht?"

Gymnasiallehrer Fischer (Chemie und Biologie) beklagte, dass selbst drei Stunden Sport in der Woche nicht ausreichten. "Wir müssen die Schüler animieren, vielleicht sogar zwingen, sich in den Pausen zu bewegen. Das fällt bei unserem großen Schulgelände relativ leicht. Aber das ist nicht überall so."

Kinderarzt Neumann sprach von einer deutlichen Zunahme von Fettleibigkeit unter Kindern wegen Mangels an Bewegung. Die Stadt Hamburg arbeitet schon an Gegenmaßnahmen. "Wir wollen in Hamburg ein Bündnis für Bewegung schmieden und Kitas und Schulen mit den Sportvereinen zusammenbringen, damit die Kinder einen Rechtsanspruch auf Bewegung haben", sagte Prüfer-Storcks. Es gebe einen Rechtsanspruch auf Betreuung, aber keinen auf Bewegung. Wegen der langen Unterrichtszeiten der weiterführenden Schulen litten die Sportvereine unter sinkenden Zahlen von Schülerinnen und Schülern.

Welchen Effekt schon kleine Veränderungen haben, wurde aus einer Studie klar, über die Dr. Neumann berichtete: "In einer Studie in Frankfurt hat man fünf Minuten von jeder Unterrichtsstunde abgenommen nur für Bewegung. Die Zahl der Schulunfälle ist um 95 Prozent zurückgegangen." Motorisch gesehen seien die Kinder auf dem Land besser als die in der Stadt: "Die Hamburger Kinder können ja nicht mehr durch den Wald laufen. Die fallen über jede Wurzel."

Auch für das seelische Wohl der Kinder muss mehr getan werden. "Die Kinder leiden aber auch unter einer Beziehungslosigkeit, weil sie oft den ganzen Tag alleine sind. Ich würde mir manchmal eine Elternschule wünschen", sagte Schulte-Markwort.

Hinzu kommen die gesteigerten Leistungsansprüche, die Kinder und Eltern belasten. "Alle sind unter Druck. Es hat mit der Einführung der achtjährigen Gymnasialzeit einen dramatischen Wandel gegeben. Allerdings hat auch die Disziplinbereitschaft bei der Mehrheit der Kinder zugenommen. Die Lernbereitschaft ist ungeheuer. Wenn ich daran denke, mit welch reflektierten Kindern ich zu tun habe - das hatte ich vor 25 Jahren nicht", sagte der Kinderpsychiater. Das sei die Überforderung der Kinder. "Und Eltern haben dasselbe Problem. Mütter müssen heute aus unterschiedlichen Gründen schnell nach der Geburt wieder arbeiten. Wir brauchen zukünftig ganz andere Arbeitsstrukturen, um den Bedürfnissen von Kindern und Eltern entgegenzukommen."

Für die Gesundheitssenatorin sind nicht die Berufstätigkeit der Mütter oder die Ganztagsbetreuung das Problem. "Ich finde es wichtig, dass alles, was mit der Schule zu tun hat, auch in der Schule erledigt wird und nicht noch in die Familie hineingetragen wird. Was die Berufstätigkeit der Mütter betrifft: Alle Untersuchungen zeigen doch, dass es keinen Zusammenhang mit der Entwicklung der Kinder gibt, wenn sie professionell betreut werden. Und die Zufriedenheit, die emotionale Befindlichkeit der berufstätigen Mütter ist auch wichtig. Wir müssen sehen, dass wir eine gute und verlässliche Betreuung sicherstellen", so Prüfer-Storcks.

Dafür sei es auch nötig, so Kinderarzt Neumann, Kita-Erzieherinnen besser auszubilden und ihr Sozialprestige erhöhen. "Die stehen am unteren Ende der Einkommensskala." Und es müsse, so Prüfer-Storcks, mehr in frühkindliche Bildung investiert werden. "Wir haben Nachholbedarf in Deutschland. Das hat auch ideologische Gründe. Bis in die 90er-Jahre hinein hatten wir dieses Modell ,Zu Hause ist es am besten'. Wir müssen mehr Geld in direkte Förderung stecken und weniger Geld mit der Gießkanne verteilen über Kindergeld. Wir müssen mehr Geld in Einrichtungen stecken, um auch soziale Unterschiede auszugleichen. Bei uns hängen die Bildungschancen immer noch ganz stark von der sozialen Herkunft ab."

Um die Kindergesundheit zu verbessern, will die AOK jetzt einen Aktiv-Gesundheitspass für Kinder von drei bis 14 Jahren herausgeben. "Da kann man mit Aktionen, aber auch mit Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen Stempel und Punkte sammeln, für die es Sachprämien gibt oder einen finanziellen Zuschuss für eine Vereinsmitgliedschaft", sagte Buchwitz. Bei der Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen besteht in Hamburg noch Verbesserungsbedarf. "Zwischen 90 und 97 Prozent der Kinder gehen hin. Wir liegen in Hamburg vier Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. Das ist unbefriedigend", sagte Prüfer-Storcks. Je nach sozialer Lage in den Stadtteilen sei die Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen aber sehr unterschiedlich. "Wir bekommen in den nächsten Wochen den Evaluationsbericht zur Wirkung des Meldeverfahrens, das ist eine Art Erinnerung, dass die Kinder zur Vorsorge zum Arzt kommen sollen. Wir müssen prüfen, ob das was gebracht hat", sagte die Senatorin.

Geschockt zeigten sich die Ärzte von dem Fall des Pflegekindes Chantal, das an einer Methadonvergiftung starb. "Denn eigentlich sollte das Meldeverfahren dazu dienen, dass wir die auffälligen Familien frühzeitig entdecken, in denen es Vernachlässigung gibt, und dann den Kontakt zu den Behörden herstellen", sagte Renz. Neumann ergänzte: "Alle Fälle von Vernachlässigung, die in der Vergangenheit bekannt wurden, zeigen: Das sind alles Kinder, die nicht regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen vorgestellt wurden."

Sorgen bereitet den Experten auch, wie die technische Ausstattung der Kinderzimmer hochgerüstet wird. Lehrer Fischer behauptete: "Facebook stiehlt den Schülern jeden Tag eine Stunde. Einige aus der Mittelstufe kommen unausgeschlafen in die Schule, weil sie bis drei Uhr nachts am Computer gespielt haben." Schulte-Markwort hob einen gewissen Suchtfaktor von Spielen wie zum Beispiel "World of Warcraft" hervor. "Ich warne aber davor, das zu sehr zu verteufeln. Das sind fünf Prozent der Jungen, die eine deutliche Computersucht entwickeln, die in der Regel auch vorübergehend ist." Bei Mädchen sind es 0,3 Prozent. Die meisten gingen verantwortlich damit um.

Kinderarzt Renz gab allerdings auch zu bedenken: "Kinder sind emotional gestresst wegen der Dinge, die bei Facebook laufen. Wir brauchen da offensichtlich mehr Regeln für Kinder und im Internet." Schulte-Markwort sagte: "Wir kritisieren Facebook, aber die Kinder haben auch Kontakte untereinander. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Beziehungsqualität der Kids untereinander schlechter wird." Die Eltern müssten sich unbedingt dafür interessieren, was ihre Kinder am Computer machen. "Welche Spiele, welche Internetseiten sind das?"

Ende der Serie