Die Bürgerbegehren in Hamburgs Bezirken können dazu führen, dass eine Minderheit den Willen der Mehrheit aushebelt

Willy Brandt wird sich, so fürchte ich, bereits im Grab umgedreht haben. Als er Kanzler wurde, war seine erste Regierungserklärung von einer Idee geprägt: "Mehr Demokratie wagen." Der Muff, der aus den Adenauer- und Kiesinger-Jahren noch über der Bundesrepublik lag, wurde weggewischt.

40 Jahre später hat eine Organisation den Slogan zwar übernommen, aber die Idee nicht verstanden. Sie nennt sich Mehr Demokratie. In Hamburg ist es dem Verein vorerst gelungen, auf Bezirksebene Bürgerbegehren ohne Beteiligungsquoren durchzusetzen. Aus Angst, sich mit der kampagnenstarken Organisation anzulegen und womöglich in den dann von dieser Organisation wohlfeil geschürten Verdacht des "Anti-Demokratischen" zu kommen, haben leider alle Parteien der Forderung nach dem Verzicht auf Quoren nachgegeben. Das ist grundsätzlich falsch und führt zu weniger statt zu mehr Demokratie. Aktuell setzt ein Volksentscheid im gesamten Stadtstaat - also mit Bindungswirkung für die Bürgerschaft - voraus, dass zunächst fünf Prozent der Wahlberechtigten den Volksentscheid fordern und bei der Abstimmung selbst die Mehrheit der Teilnehmer, mindestens aber 20 Prozent der Hamburger Wahlberechtigten, dafür stimmen.

Beim Bürgerbegehren auf Bezirksebene gibt es bisher keine Quoren und leider soll es so bleiben. Wenn sich drei Prozent der Wahlberechtigten für das Bürgerbegehren aussprechen und bei der anschließenden Wahl vielleicht ebendiese drei Prozent daran teilnehmen und dafür stimmen, ist das Ergebnis gültig. Das ist grotesk. Hamburgs Bezirke sind keine Dörfer, sondern Großstädte mit 100 000 bis über 400 000 Einwohnern. Hier geht es um Themen, die viele betreffen.

Warum sollten wir ein Gesetz akzeptieren, in dem eine kleine Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufdrängen kann? Solche Forderungen durchweht der böse Geist des Antiparlamentarischen. Es wird so getan, als ob ein frei von den Wählern gewähltes Parlament dümmer und weniger verantwortungsvoll sei als eine kleine Gruppe selbst ernannter Aktivisten, die gegen neue Wohnprojekte oder den Neubau eines Heims für Demenzkranke zu Felde zieht.

Wir haben die "Wutbürger" in Stuttgart noch in Erinnerung, die aus der Verteidigung eines potthässlichen Bahnhofs fast einen Religionskrieg machten. In Kalifornien führte ein extrem "großzügiges" Gesetz über Volksentscheide dazu, dass am Ende die Bürger vom Staat alles Mögliche forderten und damit hohe Kosten verursachten, aber gleichzeitig dafür votierten, dass die Steuern immer weiter sinken. Nicht umsonst haben wir uns für eine parlamentarische, repräsentative Demokratie entschieden, in der auch der Regierungschef vom Parlament gewählt wird. Es ist leider Mode geworden, gegen das Parlament und die Politiker zu pöbeln. Doch etwas Besseres gibt es nicht.

Volksentscheide sollte es geben, aber die Hürden dafür müssen hoch sein. Wenn ein Volksentscheid den Beschluss eines Parlaments aushebeln soll, muss er auf breitestmöglicher Basis stehen. In einer Demokratie zählt nicht das Interesse einiger Engagierter oder Motivierter, sondern das Gesetz der großen Zahl. Ein Volksentscheid ohne Quoren wird zum Völkchendiktat.

Mein Vorschlag: Wenn mindestens fünf Prozent mehr Wahlberechtigte am Bürgerbegehren oder Volksentscheid teilnehmen als an der jeweils letzten Wahl zur Bürgerschaft oder Bezirksversammlung, dann ist dieser Bürgerentscheid gültig. Ansonsten muss das Parlament das letzte Wort behalten.