Die Halbtagsgrundschule war anfangs stark umstritten

Hamburg. Jede große schulpolitische Reform, die in den Tagesablauf der Familien eingreift, sorgt nicht nur zu Recht für eine breite Debatte unter Eltern und Lehrern. Solche Reformen lösen auch sehr persönliche Bedenken, bisweilen Ängste aus. Manch schriller Ton in der aktuellen Auseinandersetzung über die Einführung der Ganztagsgrundschule erinnert an eine heftige schulpolitische Kontroverse, die die Stadt Mitte der 90er-Jahre erfasste. Damals ging es um die Verlässliche Halbtagsgrundschule (VHGS), die Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD) flächendeckend einführen wollte.

Der Kern der Reform, ein Vorläufer zur Ganztagsgrundschule, ist einfach: Die Grundschüler sollen in der Zeit von 8 bis 13 Uhr verlässlich Unterricht haben. Gerade berufstätige Eltern sollen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder vormittags "versorgt" sind.

Was heute selbstverständlich und längst akzeptiert ist, war es damals keineswegs: Die Reform bedeutete, dass die Erstklässler 23 statt 19 Unterrichtsstunden haben würden. Die Zweitklässler mussten sieben Stunden, die Dritt- und Viertklässler je vier Stunden länger pro Woche in der Schule sein.

In einer zunehmend hitzigen Debatte über die Einführung der VHGS war das Schlagwort von der "Käfighaltung" die emotionale Spitze. "Schulbetreuung ohne genug Platz ist Käfighaltung, davor will ich mein Kind schützen", sagte ein Vater, der mit anderen Eltern gegen die VHGS klagte. Markus Wegner, Gründer der STATT Partei, die damals mit der SPD regierte, setzte sich vom Senatskurs ab und wetterte "gegen die zwangsweise Unterbringung aller Grundschüler über fünf Stunden täglich".

Die Argumente für die VHGS waren demgegenüber durchaus gewichtig: Deutschland war, was die Unterrichtszeit in der Grundschule angeht, europaweit Schlusslicht. Die pädagogische Fachdebatte lief klar auf eine Verlängerung der Unterrichtszeiten hinaus. Dabei ging es nicht nur um Verlässlichkeit für berufstätige Eltern, sondern auch um die Möglichkeit, Defizite von Kindern durch zusätzliche Förderung früh zu diagnostizieren und abzubauen.

Die Eltern-Klage gegen die VHGS hatte keinen Erfolg. Stufenweise führte Rosemarie Raab die Reform flächendeckend bis zum Ende des Jahrzehnts ein. Inzwischen ist die Verlässliche Halbtagsgrundschule ein etabliertes System. Im vergangenen Jahr hat der erste Schülerjahrgang, der die Halbtagsgrundschule komplett durchlaufen hat, Abitur gemacht. Erstmals haben mehr als 50 Prozent der Schulabgänger die Reifeprüfung abgelegt. Als ein Grund für diesen Erfolg wird die VHGS-Reform genannt. Eindeutiger noch ist nach Ansicht von Bildungsexperten die Wirkung der VHGS direkt auf die Leistungen der Grundschüler: In länderübergreifenden Vergleichstests haben Hamburger Grundschüler längst kräftig aufgeholt. Heute gilt die VHGS als bildungspolitischer Erfolg.