Die Zahl der Schulkinder mit Förderbedarf steigt. Seit 2009 setzt Hamburg auf Inklusion, das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung. Wie kann das erfolgreich gelingen? Ein pädagogisches Plädoyer

ber mangelnden Reformeifer der Bildungspolitik können sich Lehrer, Eltern und Schüler in Hamburg wahrlich nicht beschweren. Die Aufregung um die gescheiterte Schulreform hat sich kaum gelegt, die Diskussion um die Ganztagsschule ist noch voll im Gange, da steht ein neues Thema auf der politischen Agenda: Inklusion. Darunter verstehen Fachleute den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarf. Weniger politisch korrekt ausgedrückt: Entsprechend einer Uno-Konvention sollen behinderte und verhaltensauffällige Kinder künftig auch in Deutschland nicht mehr auf separate Sonderschulen gehen, sondern reguläre Schulen besuchen. Was in anderen Ländern selbstverständlich ist, weckt bei uns Sorgen um die Qualität des Unterrichts. Entsprechend ist Inklusion nach wie vor umstritten: Die Hälfte der Bevölkerung ist laut Umfragen dafür, die andere Hälfte dagegen.

Hamburg macht auf dem Weg zur Inklusion Tempo. Besuchten 2009 gerade einmal 13 Prozent der Kinder mit Förderbedarf eine reguläre Grundschule, waren es im vergangenen Schuljahr bereits 36 Prozent der Erstklässler. Grund ist auch eine Änderung im Schulgesetz, das allen Eltern das Recht einräumt, ihr Kind an einer Regelschule anzumelden. Das gibt es bislang bundesweit sonst nur noch in Bremen. Resultat: Innerhalb von zwölf Monaten hat sich die Zahl der Hamburger Schulen, an denen auch beeinträchtigte Schüler lernen, mehr als verdreifacht. Damit ist Inklusion nicht länger Randthema. Wenn alle Schüler mit Förderbedarf auf eine reguläre Schule gingen, wären dies rechnerisch ein bis zwei Schüler in jeder Klasse.

Kein anderes Land in der Welt hat ein so ausdifferenziertes und teures Sonderschulsystem wie wir. Für einen Teil der rund eine halbe Million Förderkinder, etwa bei einer schweren geistigen Behinderung, bietet nur eine separate Betreuung hinreichende Fürsorge. Zwei Drittel der Sonderschüler sind aber vor allem in ihrer Reife beeinträchtigt. Sie haben Lernschwierigkeiten oder Probleme in der emotionalen und sozialen Entwicklung. Oder sie sind Kinder von Zuwanderern, denen eine angebliche Sprachbehinderung attestiert wurde. Würden all diese Kinder gemeinsam mit anderen in einer Regelschule lernen, könnten sie Verzögerungen besser aufholen und hätten größere Chancen auf einen Schulabschluss.

Heute scheitern drei von vier Sonderschülern bereits am Hauptschulabschluss - der vermeintliche Schutzraum entpuppt sich als Isolationsfalle. Das ist bitter für jeden Einzelnen, hat aber auch dramatische Folgen für Staat und Gesellschaft: Wirtschaftswachstum, Sozialausgaben und Kriminalität stehen in direktem Zusammenhang mit der Perspektivlosigkeit Jugendlicher ohne Schulabschluss. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung berechnet allein die Folgekosten für die öffentlichen Haushalte auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahrgang.

Ein inklusives Schulsystem wird jedoch noch nicht dadurch gut, dass Politik oder gesetzliche Bestimmungen es so wollen. Ein gutes Schulsystem muss beides sein: gerecht und leistungsstark. Das allerdings galt in Deutschland lange Zeit bestenfalls als Utopie. Anders in Kanada: Einige Provinzen, die in den 1950er-Jahren mit Inklusion begannen, haben inzwischen sämtliche Sonderschulen geschlossen.

Dafür ist an jeder Schule ein Team aus Sonderpädagogen im Einsatz. Sie unterstützen die Lehrer bei deren Arbeit mit besonders förderbedürftigen Schülern. Zu denen zählen in Kanada nicht nur Kinder mit Behinderung, sondern auch Hochbegabte. Diese Rechnung geht offenbar auf, denn Kanada gehört bei PISA regelmäßig zur Spitzengruppe und hat gleichzeitig einen sehr geringen Anteil an Schulabbrechern.

Inklusion und Leistung sind also kein Widerspruch - und dürfen es auch nicht sein. Denn jeder Schüler hat Anspruch auf bestmögliche Entwicklung. Eingelöst wird dieser Anspruch durch eine konsequente Praxis der individuellen Förderung, die an inklusiven Schulen selbstverständlich ist. Ziel: Niemand darf zurückgelassen werden, niemand soll sich langweilen.

Diese Art des Unterrichts nutzen längst nicht nur inklusive Schulen. Denn eine Klasse wird nicht erst dadurch heterogen, weil zwei oder drei ihrer Schüler eine Behinderung haben. Eine Klasse, in der in allen Fächern alle gleich gut sind, gibt es nicht - auch und gerade im Westen Hamburgs nicht, wo inzwischen fast alle Schüler das Gymnasium besuchen. Eine individualisierte Lernkultur ermöglicht es den Lehrern, gleichermaßen auf schwächere wie auf stärkere Kinder einzugehen.

Ein solcher individueller Unterricht verlangt eine Menge von den Lehrern. Die Vorbereitung wird aufwendiger, weil jedes Kind einen eigenen Lernplan erhält. Denn unterschiedliche Lernweisen und -geschwindigkeiten sind in inklusiven Schulen nicht nur erlaubt, sondern gewollt. Lernen lernen wird wichtiger als Fakten wissen. Der Klassenlehrer dokumentiert die individuelle Entwicklung jedes Schülers und bespricht sie mit dessen Eltern. Auch stärkt inklusiver Unterricht Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz, Toleranz und Verständnis für andere. Und Lehrer arbeiten im pädagogischen Team statt als Einzelkämpfer - was dazu beitragen kann, das eine oder andere Burn-out abzuwenden.

Der Wandel zur inklusiven Schule kann nur funktionieren, wenn sich das Lehrerkollegium geschlossen auf den Weg macht. Dazu gehören umfängliche Lehrerfortbildungen ebenso wie ein neues Selbstverständnis: "Mit allen an die Spitze" heißt etwa das Motto der Hamburger Grundschule Langbargheide, die heute den Jakob-Muth-Preis erhält.

Wichtig ist außerdem ein verbindliches Ganztagsangebot, sodass Unterricht, Spiel und Selbstlernphasen über den ganzen Tag verteilt werden können. An erfolgreichen inklusiven Schulen entscheiden Schüler und Eltern zudem mit bei Regeln, Unterrichtsinhalten oder Schulhofgestaltung. In die Schule kommen Psychologen, Therapeuten und Logopäden, meist arbeiten zwei Lehrer in einer Klasse, und es gibt Kooperationen mit Autismuszentren, Lebenshilfe oder Reha-Werkstätten.

Von all dem sind die meisten deutschen Schulen noch weit entfernt. Daher drängt sich nicht nur in Hamburg die Sorge auf, dass die Politik die Schulen überfordert und Inklusion von oben verordnet. Trotzdem gilt: Inklusion ist sinnvoll und möglich. Nur müssen die Schulen zuerst ihre Pädagogik ganz auf die individuelle Förderung aller Schüler umstellen. Sie brauchen Zeit, das Kollegium hinter der Idee zu versammeln, und entsprechende Lehrerfortbildungen und Stellen für Sonderpädagogen und Schulpsychologen.

Schulen wie die Grundschule Langbargheide zeigen, wie dann der Weg über die individuelle Förderung zur Inklusion führt. Nur so entsteht das nötige Vertrauen der Eltern. Schulpolitik gegen den Elternwillen ist zum Scheitern verurteilt. Und die Eltern hat eine Bildungsreform nur auf ihrer Seite, wenn sie allen Kindern guttut und nicht politisch, sondern inhaltlich begründet ist. Hamburg hat erfahren, wie Vertrauen verloren geht, wenn man Strukturen durchschüttelt, ohne die Eltern mitzunehmen und die nötigen Kompetenzen bei den Lehrern aufzubauen. Diesmal muss es umgekehrt laufen.

Der Jakob Muth-Preis, mit 14 000 Euro dotiert, wird heute in Berlin an vier Schulen verliehen, darunter die Hamburger Grundschule Langbargheide in Lurup. Bertelsmann-Stiftung, Unesco, Sinn-Stiftung und der Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung zeichnen damit Schulen aus, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder erfolgreich gemeinsam lernen.

Dr. Jörg Dräger, 44, ehemals Wissenschaftssenator in Hamburg, ist heute im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung zuständig für Bildung. Jüngst erschien sein Buch "Dichter, Denker, Schulversager".