Neustadt. Noch in der Nacht hat sie sich das Schlimmste von der Seele geschrieben. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, mitgenommen, wie sie war. Dieser Streit vom Nachmittag dominierte noch immer ihre Gefühlswelt und ihre Gedanken. Das Wortgefecht mit dem jungen Mann, die Beleidigungen, die Handgreiflichkeiten. Wo war sie da nur hineingeraten? Sie musste einfach ihren Kummer zu Papier bringen. Für Karin G. war ihre bis dahin geordnete Welt für eine Weile aus den Angeln gehoben.

Jetzt, wenn die 65-Jährige im Prozess vor dem Amtsgericht erzählt, wie sie sich damals gefühlt habe, ist ihre Stimme zaghaft, die Gestik verrät Verunsicherung und Verletzlichkeit. Es ist ein Gebaren, das zu einem Opfer passen würde. Doch bei Karin G. soll es sich um eine Täterin handeln. Eine Frau, die im September vergangenen Jahres bei einem Einkauf in einem Einrichtungshaus an der Kasse mit einem Mann in Streit geriet und die ihm in Brass gekommen einen Tritt und eine Ohrfeige versetzt haben soll. Noch nie ist Karin G. bislang mit dem Gesetz in Konflikt geraten - und nun das! Körperverletzung wird der Rentnerin vorgeworfen.

Einem Sturzbach gleich strömen jetzt die Worte aus dem Mund der blonden, kräftigen Frau, von ihrem Einkauf gemeinsam mit einem Bekannten erzählt sie und der Begegnung mit einem jungen Mann, der versucht habe, vor ihr in die Reihe einzuscheren. "Das geht aber nicht, sich vorzudrängeln", habe sie ihn zurechtgewiesen, dann aber doch eingelenkt und ihm den Vortritt lassen wollen. Zwei Damen hätten sich eingemischt, und sie habe geseufzt: "Das ist schlimm mit den jungen Leuten, dass die nicht warten können."

Mit dem Mann habe sich ein Wortgefecht entzündet, unter anderem habe er sie "Ey Alte" genannt und stetig das "Du" benutzt. Dagegen habe sie sich verwahrt. Der Streit sei eskaliert, er habe sie mit "üblen Ausdrücken" beleidigt. "Dann hat er mich attackiert und mit dem Ellbogen gegen mein Brustbein geschlagen. Aus einem Reflex, weil das wehtat, habe ich ihm eine Ohrfeige gegeben." Wenig später habe sie ihn auf dem Parkplatz getroffen, als er das Kennzeichen vom Wagen ihres Bekannten fotografiert habe.

Am nächsten Tag habe dann die Polizei bei ihr geklingelt. Einer der Beamten habe sie taxiert und in etwa gesagt: "Ach: klein, etwas dicker, blond, das trifft ja alles zu." Auf seine Frage, ob sie am Vortag in dem Einrichtungshaus war, habe sie Nein gesagt. "Es war Sonntagmorgen. Die Polizei im Flur - da war ich überfordert, es war mir so peinlich."

Später habe sie schließlich Schmerzen in der Brust verspürt und sei zum Arzt gegangen. Der habe ein Hämatom festgestellt, das von dem Ellbogenschlag herrühren könne.

Doch von einem solchen Hieb will ihr Gegner bei der Auseinandersetzung nichts wissen. Joachim P., ein kräftiger junger Mann, sieht die Schuld ausschließlich auf der Seite der Angeklagten. Er habe an der Kasse angestanden, als die Dame gekommen und der Meinung gewesen sei, sie sei als Erste dran. "Es gab einen Wortwechsel, sie fing an rumzulabern", sagt der lässig dasitzende 26-Jährige. "Plötzlich bekam ich einen Tritt von hinten. Ich bin herumgefahren, mein Ellbogen ging raus, aber ich habe sie in keiner Form berührt."

Er habe nach der Polizei telefoniert, doch die Frau habe sich in Richtung Parkplatz entfernt. Also habe er das Kennzeichen ihres Begleiters abfotografiert. Den Tritt in den Allerwertesten habe er "richtig gespürt, der ging von hinten in mein bestes Stück".

Ob es denn sein könne, dass er die Frau auch beleidigt habe, möchte der Amtsrichter wissen. "Klar habe ich sie beleidigt", schnaubt der Zeuge indigniert. "Was hätten Sie denn getan?" Der Bekannte von Karin G. schildert unterdessen, der 26-Jährige habe eine ruckartige Bewegung mit seinem Ellbogen gemacht. "Ich nehme an, dass er sie getroffen hat. Da kam auch schon ihre Hand hoch, wohl zur Verteidigung." Einen Tritt habe er nicht gesehen.

Am Ende der Beweisaufnahme ist aus Sicht der Staatsanwältin der Vorwurf nicht erwiesen, und auch der Amtsrichter ist "nicht überzeugt, dass es in vorwerfbarer Weise eine Körperverletzung gegeben hat". Es sei möglich, dass Karin G., bevor sie Joachim P. die Ohrfeige versetzte, selber getroffen worden sei. Deshalb erkennt er auf Freispruch. Wie erstarrt hatte die 65-Jährige noch der Schilderung des Zeugen zugehört, eine Hand vor dem Mund. Jetzt kann sie aufatmen.