Ein Abend im Hansa-Theater - mit Plüsch, Nostalgie und Akrobatik. Für gut zweieinhalb Stunden kann die gute alte Zeit auferstehen.

St. Georg. Ohren auf für Kontrabass, Saxofon und für den Mann am weißen Flügel. Mit den Kristall-Lüstern erlischt auch das Gemurmel. Schön schummrig und mucksmäuschenstill wird's im Saal. Man sinkt in seinem Plüschstuhl zurück, lässt die pfundige Schokoladentorte links liegen und den Alltag draußen vor der Tür. Voller Vorfreude wird das Herz auf Empfang gestellt. Für gut zweieinhalb Stunden möge sie auferstehen, die gute alte Zeit.

Doch bevor sich der Vorgang des Hansa-Theaters für die Künstler öffnet, erscheint ein Herr mit schwarzem Anzug, Kassenbrille, gegeltem Haar und bewusst altmodischer Attitüde. Der Bundespräsident kriegt sein Fett weg, die FDP ebenso. Jedes Wort sitzt. Der Mann heißt Georg Schramm, und er ist erste Klasse. Nach dieser geglückten, rotzfrechen Ouvertüre geht's richtig los. Noah, ein Stangenakrobat aus den USA, stellt die Gesetze der Schwerelosigkeit auf den Kopf.

+++ Aufführungen bis zum 26. Februar +++

Weiteren gekonnten Boshaftigkeiten des Conferenciers folgen vier junge Damen aus der Mongolei, höchst leicht bekleidet: Baigalma, Ariunbold, Selenge und Nandin-Erdene verzaubern das Publikum mit Verbiegungskunst vom Feinsten. Eigentlich sind solche Verrenkungen gar nicht denkbar, meint der Verstand. Das Quartett Euphoria jedoch macht das Unmögliche möglich und verschwindet nach sehenswerten Minuten fröhlich hüpfend hinter dem Vorhang. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, den winzigen Schalter auf dem Tischchen vorne nach rechts zu schieben und der Kellnerin im schwarzen Kleidchen eine neue Order zuzuraunen: "Einen Rémy Martin, bitte schön." Das passende Getränk an diesem Ort.

Auch auf den Nebentischen werden die Künstlerpausen zu weiteren Bestellungen genutzt. Rotwein der Marke Les Petites Jamelles oder ein Köpi aus der Flasche gehen gut. Andere bitten um Champagner, die Flasche für 65 Euro. Sie wird in einem antik anmutenden Kühler gereicht. Praktisch, dass sich vor jedem Platz ein Tisch mit verschnörkeltem Schutzzaun befindet. Die Kreppschirmlampen darauf spenden diskretes Licht. Das Theater ist bis auf den letzten Platz gefüllt.

"Dieses Haus ist noch älter als mancher von Ihnen", scherzt der Moderator. Doch auch die Senioren haben den sanften Bösewicht im Nu in ihr Herz geschlossen: Schramm genießt Narrenfreiheit. Anno 1894 entstand das Hansa-Theater aus dem Hansa-Concert-Saal. Die Idee hatte ein Bierbrauer namens Paul Wilhelm Grell aus Heide, der unmittelbar am Hamburger Hauptbahnhof ein Ausflugslokal mit Remmidemmi ins Leben rief. Was mit Blaskapellen, kämpfenden Frauen und musizierenden Tieren begann, setzte sich mit Künstlern aus aller Welt fort.

In furiosen Gründerjahren wurden filigran Jungfrauen zerlegt oder von Hans Albers musikalisch mit auf große Fahrt genommen. Josephine Baker, leicht beschürzt, wippte mit ihrem Bananenröckchen, Caterina Valente lernte hier ihren Rastelli kennen, die Bremer Siegfried & Roy kamen in Hamburg groß raus, die Kessler-Zwillinge präsentierten sich in Hochform, und der Clown Charlie Rivel rührte das Volk, als er in seiner unnachahmlichen Art befand: "Akrobat schööön!" Als das Varieté-Theater im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, war Schluss mit lustig. 1953 erfolgte der Neubau ein paar Meter weiter, auf dem Gelände der früheren Elefanten- und Pferdeställe.

Doch kommt heute nicht nur Alt, sondern auch Jung auf seine Kosten. Die zahlreichen Kinder gucken fasziniert, als der Däne Alex seine Puppe Barti mittels 40 Fäden zum Leben erweckt. Die Kunstfigur spielt wie ein Weltmeister Klavier und mutiert wenig später zum Rockstar Little Richard, der "Lucille" zum Besten gibt. Als darauf der argentinische Artist Paul Ponce die vollendete Magie des Jonglierens vorstellt und Hüte durch die Luft sausen lässt, wird lang anhaltender Applaus gespendet.

Und plötzlich ist sie da, diese immer junge Faszination des Varietés. Die Begeisterung für die Hohe Schule der Artistik und Akrobatik eint das Publikum. Wenn im Internet via YouTube lustige Filmchen weltweit die Runde machen, sich im Kino Außerirdische durchs Weltall beamen und im Zirkus der Neuzeit Illusionskünstler mit optischen Finessen tief in die Trickkiste der Technik greifen, stammt der Zauber im Hansa-Theater noch von anno dazumal. Ein Prosit jenen risikobereiten Unternehmern, die den schillernden Bühnen-Klimbim im Januar 2009 nach acht Jahren Zwangspause zu neuem Leben erweckten. Der Lohn ist eine Auslastung von fast 90 Prozent.

Dabei hat sich seit 1953 eigentlich nichts verändert. Und das ist auch gut so. Alles ist plüschig und gediegen wie immer schon. Das beginnt mit den Kostümen der Angestellten und der Livree des Türstehers, es endet bei Ljuba Jovanovska. Die treue Seele saß früher 17 Jahre an der Kasse und übernimmt heute den Service an der Garderobe.

Ältergedient ist allein Herr Friedrich Engelhardt, der seit 1977 im Einsatz ist. Der 69-Jährige gibt freimütig zu, bei der Schließung 2001 "nicht nur eine Träne" vergossen zu haben. Seit der Wiedereröffnung ist der Empfangschef erneut als guter Geist der Spielstätte an Bord. Ein uraltes Holzschild im Foyer weist mit verschnörkelter Schrift auf die Möglichkeit hin, "Wünsche und Beschwerden" loszuwerden. Direkt vor Ort. Jetzt. In der Kemenate dahinter sitzt, wer sonst: Herr Engelhardt. Und wenn keiner hinguckt, beglückt er Kinder mit einem Lebkuchenstern.

Auch die Waschräume mit der alten Drehtür und der nostalgischen Holzvertäfelung sind einen Besuch wert. Hinter den Kulissen der Umkleideräume (winziger geht's nimmer) führt Künstlerbetreuer Hartmut Schrewe gefühlvoll Regie. Auf einer jahrzehntealten Leuchttafel werden die jeweiligen Auftritte rot signalisiert.

Dennoch ist nicht mehr alles beim Alten. Heutzutage wohnen die Artisten im Hotel und nicht mehr im Wohnwagen auf dem Hof - wie noch vor einigen Jahren. Auch Europas einzige Kaffeekannen-Zähl-und-Füllanlage in der Küche hat ausgedient. Die herrlich altmodischen Kaffeekännchen indes sind noch in Gebrauch. Selbst der legendäre Theaterteller wird nach wie vor feilgeboten - in einer maritimen und einer Käse-Variante. Früher jedoch war der Rand der getoasteten Scheiben abgeschnitten (damit Gäste mit dritten Zähnen besser zubeißen konnten). Offensichtlich sind die Brücken heutzutage besser gebaut.

Gut gesättigt beginnt die zweite Hälfte. Das Duo Flah aus Kiew verblüfft mit einer überragenden Partnerakrobatik. Selyna lässt Tücher, Bälle und Reifen mit ihren Füßen wundersam durch den Raum gleiten. Herr Schlick zeigt sich als unglaublicher Bauchredner, und der Zauberer Marko Karvo hinterlässt nicht nur bei den Jugendlichen offene Kinnladen. Er lässt Tauben, Sittiche und einen Papageien erst im Nichts verschwinden - und anschließend durch den Theatersaal schwirren. Applaus, Applaus, Applaus.

Zum Schluss bleibt die bedauerliche Erkenntnis, dass die Zeit nicht wirklich stillsteht. Denn viel zu rasch ist die Vorstellung zu Ende.