Vor einigen Tagen fuhr ich gespannt zu meinem Klassentreffen nach Bremen, wo ich vor 45 Jahren mein Abitur gemacht hatte. Von 21 Leuten waren 14 erschienen, auch ein alter Lehrer war dabei. Wir betrachteten einander mit einer Mischung aus Erinnerung und Neugier und entdeckten manche jugendliche Vertrautheit. Würdige 65-jährige Ärzte, Richter oder Pastoren nannten sich wieder bei Spitznamen wie "Häschen" oder "Biberzahn" und tauchten ein in die gemeinsame Vergangenheit.

Mit gemischten Gefühlen holten wir vergangene Phasen des Lebens für ein paar Stunden zurück, manche nostalgisch verklärt. Ich musste unwillkürlich an Bert Brechts Herrn Keuner denken, der von einem Mann, den er lange nicht gesehen hatte, mit den Worten begrüßt wurde: "Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh!", sagte Herr K. und erbleichte.

Auch mich würde es erschrecken, wenn man mir die 35 Jahre des Berufs nicht ansähe, in denen ich älter und hoffentlich weiser geworden bin. Was liegt alles hinter mir an Freuden, Enttäuschungen und Abschieden? Auch meine Klassenkameraden hatten inzwischen berufliche Höhepunkte, familiäre Veränderungen und gesundheitliche Krisen erlebt, einige erzählten davon. Ich hörte ihnen zu und versuchte zugleich, meine eigene Position zu bestimmen: Wie sehen mich die anderen heute? Bin ich der geworden, der ich sein wollte? Und noch einen Schritt weiter: Bin ich so, wie Gott mich gedacht hatte?

In einer chassidischen Geschichte erzählt Rabbi Susja: "In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ,Warum bist du nicht Mose gewesen?' Vielmehr wird man mich fragen: ,Warum bist du nicht Susja, warum bist du nicht du selbst gewesen?'"

Als ich nachts nach Hamburg zurückfuhr, nahm ich viel zum Erzählen und zum Nachdenken mit, auch Selbstkritisches. Aber zugleich den Wunsch, nicht nur in der Vergangenheit zu leben, sondern mit allen Erinnerungen und Einsichten in die Zukunft zu sehen. Auf das, was ich dort gestalten kann, und das, was mir bitte noch geschenkt wird. Auf eine geliehene Lebenszeit, die ich einst dankbar zurückgeben will, gefüllt mit Verantwortung, Sinn und Hoffnung.

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