Dr. Andreas Blätte, 33, seit 2009 Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

1. Hamburger Abendblatt:

Die Grünen in NRW fordern eine Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft. Wäre eine solche Konstellation im Sinne der Landesverfassung?

Prof. Dr. Andreas Blätte:

Die Landesverfassung von 1946 macht eine Minderheitsregierung möglich. Wenn keine Mehrheit der Landtagsmitglieder und auch keine der abgegebenen Stimmen zustande kommt, gibt es eine Stichwahl. Gewählt ist dann, wer die meisten Stimmen erhält. Das wäre ein Ministerpräsident oder eine Ministerpräsidentin einer Minderheitsregierung. Anders als etwa in den nordischen Staaten entsprechen aber Minderheitsregierungen nicht der politischen Tradition Deutschlands. Sie gelten als instabil und handlungsunfähig. Sie werden bislang nach Möglichkeit vermieden.

2. Wie lange kann ein Ministerpräsident Rüttgers ohne eigene Mehrheit im Amt bleiben?

Rein rechtlich auf unbestimmte Zeit, aber der Ministerpräsident und die CDU befinden sich in einer Zermürbungssituation. SPD und Grüne können Gesetze erlassen. Dafür brauchen sie nicht die Zustimmung der Linkspartei, nur deren Enthaltung. Vermutlich werden Vorschläge kommen, die in der Öffentlichkeit gut ankommen. Hannelore Kraft kann sich, wenn sie sich mit den Grünen einig ist, jederzeit zur Regierungschefin wählen lassen. Wie lange hält die CDU dies aus? Die Situation ist strategisch instabil.

3. Bei welcher politischen Situation wären in NRW denn Neuwahlen sinnvoll?

Man braucht für den Zweck der Parlamentsauflösung eine Allianz für diese Entscheidung. Neuwahlen erfordern eine Mehrheit der Mitglieder des Landtags. CDU, FDP und Linkspartei befürchten aber bei Neuwahlen Verluste, also ist das noch nicht in Sicht. Neu-wahlen können trotzdem kommen, wenn nur so das Patt aufgelöst werden kann.

4. Fühlen sich die Wähler in ihrem Votum nicht ernst genommen, wenn es den Parteien nicht gelingt, eine Regierung zu bilden?

In Meinungsumfragen sagen Bürger überwiegend: Die Parteien können nicht so lange wählen lassen, bis ihnen das Ergebnis passt. Im Fünfparteiensystem wird es regelmäßig zu Situationen kommen, in denen die Koalitionsbildung schwierig ist. Die Parteien erkunden derzeit, wie man damit umgehen kann, und die Bürger werden lernen müssen, dass da neue Wege gegangen werden.

5. Wie stark beeinflusst die Situation im Bund die politische Entscheidung in Düsseldorf?

Die aktuelle Entscheidung von Hannelore Kraft, keine Koalitionsgespräche mit der CDU zu führen, reflektiert die innerparteiliche Situation der NRW-SPD. Aber die Situation wird dynamisch durch bundespolitische Ereignisse: die kippelige Bundespräsidentenwahl, die Frage der Opel-Rettung, insgesamt die Berliner Koalitionsquerelen.