Kanzlerin Angela Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle sehen in ihrem Präsidentschaftskandidaten Christian Wulff genau die Vorzüge, die sie selbst vermissen lassen

Man kennt das von Geburtstagsfeiern und Dienstjubiläen: Menschen loben an anderen Menschen vornehmlich jene Eigenschaften und Besonderheiten, die ihnen selbst fehlen. Insofern war die Präsentation des Bewerbers für das Amt des Bundespräsidenten, Christian Wulff, durch die Vorsitzenden der schwarz-gelben Regierungsparteien ein besonders faszinierendes Schauspiel für Alltags-Psychologen.

Wulff, so betonte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, sei jemand, "der einem Wertesystem verhaftet ist, das auch Orientierung gibt". Und Ihr FDP-Kollege Guido Westerwelle pries den "klaren inneren Kompass" Wulffs. Der Kandidat wisse, "welche geistige Achse unsere Republik braucht".

Klarer innerer Kompass, geistige Achse - das sind Vorzüge, mit denen Westerwelle selbst selten in Verbindung gebracht wird. Auch die Kanzlerin ließ im ersten schwarz-gelben Regierungsjahr gelegentlich Orientierung vermissen. Ausgerechnet der im September 2009 gewählten "bürgerlichen" Koalition fehlten von Anfang an jene "bürgerlichen" Tugenden, die jetzt so sehnsüchtig auf Wulff projiziert werden.

Im Gefühl von Triumph und vermutlich auch Verblüffung über den deutlichen gemeinsamen Sieg haben es Merkel und Westerwelle in den Koalitionsverhandlungen versäumt, ihrer Regierung Inhalt und Ernsthaftigkeit auf den Weg zu geben. Westerwelle glaubte wohl, rund 15 Prozent der Wählerstimmen gehörten nun für immer ihm, er drehte auf als radikaler Steuersenker auf Pump, Wohltäter für die FDP-Klientel (Hotel-Steuer) und populistischer Sprücheklopfer gegen vermeintlichen Sozialmissbrauch ("spätrömische Dekadenz").

Und Merkel stoppte ihn nicht. Als sei ihre Maxime: Hauptsache Kanzlerin, der Rest wird sich geben. Sie setzte wohl auf ihre Fähigkeit, im Streitfall pragmatische Lösungen zu finden - etwa, wenn für die Steuersenkungspläne der FDP nicht genug Geld da wäre. Aber sie machte sich diese Pläne zunächst einmal zu eigen. Deshalb wirkt es jedes Mal wie eine Verhöhnung der Bürger, wenn Merkel und Westerwelle neuerdings im Brustton der Überzeugung verkünden, der Staat könne selbstverständlich nicht mehr ausgeben, als er einnimmt.

Merkel schien sich nach dem Wahlsieg auch damit abzufinden, dass die Union nicht einmal mehr 35 Prozent der Wählerstimmen bekommen hatte. Das verunsicherte ihre eigene Partei, die CDU, die ihr Selbstverständnis als Volkspartei bedroht sieht. Und erst recht die ohnehin profilneurotische bayerische Schwester CSU. Drei Koalitionspartner ohne gemeinsames Ziel, ohne Orientierung, Kompass und Achse - es hat nicht einmal ein Jahr gedauert, bis diese Regierung ernsthaft an den Rand ihres Scheiterns geraten ist. Wahl-Desaster in Nordrhein-Westfalen, Euro-Krise, Köhler-Rücktritt - jeder dieser Rückschläge wäre allein schon schwer zu verkraften gewesen, in der dichten Abfolge verstärkten und potenzierten sie noch ihre Wirkung.

Der Abgang des Bundespräsidenten nach sechs Jahren Amtszeit zum Beispiel wäre für sich allein genommen wohl ein ohne große Aufregung lösbares Problem für die Koalitionsparteien gewesen. Doch nun ist die Personalie ein Symbol für die schwarz-gelbe Krise.

Und der Zeitdruck, in dem die Koalition sich selbst und der Öffentlichkeit ihre Handlungsfähigkeit beweisen wollte, droht weiteren Schaden anzurichten. So wird Christian Wulffs Wahl und Start ins hohe Amt vor allem unter dem Gesichtspunkt beobachtet werden, wie viele Stimmen aus dem bürgerlichen Lager ihm fehlen. Bittere Ironie obendrein für die "bürgerliche" Regierung und ihre Wähler: Mit Joachim Gauck hat die rot-grüne Opposition den perfekten "bürgerlichen" Gegenkandidaten aufgestellt, einen Mann mit klarem inneren Kompass.

Die Bundespräsidenten-Wahl kann die Koalition am 30. Juni wenigstens abhaken. Das zweite große Thema dieser Wochen, das Sparen, wird sie dagegen in den nächsten Monaten jeden Tag aufs Neue fordern. Dieses Thema bietet ihr nun allerdings auch die Chance, die Versäumnisse des ersten Jahres nachzuholen.

Ein Land durch eine fast permanente weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise führen, Wirtschaft und Sozialsystem nicht durch Verschuldung ruinieren, andererseits Investitionen und Aufbruch nicht kaputt sparen - das ist eine Aufgabe, für die Orientierung, innerer Kompass und geistige Achse unerlässlich sind. Noch eine bittere Ironie: Den Anstoß dazu, sich diese Tugenden nachträglich zu erwerben, verdankt Schwarz-Gelb den Finanzjongleuren und Euro-Spekulanten.