Thorge Lorenzen gibt Motivationstraining für Hamburger Langzeitarbeitslose - und ihre Betreuer aus den Jobcentern. Beide haben etwas gemeinsam: Ihnen fehlt der Antrieb.

Hamburg. Ralf kommt fünf Minuten zu spät. Sein massiger Körper steckt in einem schlabberigen roten T-Shirt, er trägt weiße Tennissocken, eine zu enge Jeans. Ralf senkt den Kopf, als er seinen Namen nennt. Seit vier Jahren ist er arbeitslos. Seine weiche Stimme sagt: "Ich bin hier, weil ich immer so schnell aufgebe."

Andreas ist ein durchtrainierter Typ, dunkle Haare, tiefe Stimme vom Rauchen. Auch er kommt zu spät, 20 Minuten, ein Stau. Andreas arbeitet in der Eingangszone eines Jobcenters. Er ist der erste Ansprechpartner für Typen wie Ralf, der Empfangschef für das System Hartz IV. Und obwohl Andreas im Gegensatz zu Ralf Arbeit hat, haben die beiden viel gemeinsam. Auch er fühlt sich manchmal antriebslos. Weil ihm wie Ralf etwas fehlt: eine Herausforderung.

Thorge Lorenzen ist nach Hamburg gekommen, um dem Arbeitslosen Ralf und dem Arbeitsvermittler Andreas zu helfen. Er steht in einem Seminarraum und schaltet seinen Beamer ein. An der weißen Wand erscheinen ein blauer Himmel und eine grüne Wiese. Und eine Hummel. "Wussten Sie, dass eine Hummel gar nicht fliegen kann?", fragt Lorenzen. "Ihr Körper ist zu groß, die Flügel sind zu klein. Und dennoch kann die Hummel fliegen. Weil sie es will. So ähnlich ist es mit der Motivation", sagt er. "Heute geht es nur um Sie." Er zeigt auf seine Zuhörer.

Ralf ist eine Hummel, die nicht mehr fliegt. Bei Aldi hat er an der Kasse gesessen. Dann kamen die Depressionen. Er fehlte immer häufiger bei der Arbeit. Dann war der Job weg.

Andreas hat 20 Jahre bei der Telekom gearbeitet. Zuletzt war er eine Führungskraft, hatte Personalverantwortung. Er hatte Rückenschmerzen, Magenschmerzen, konnte sich nicht mehr motivieren. Er warf hin. Seit eineinhalb Jahren ist er jetzt im Jobcenter. An manchen Tagen würde er lieber im Bett bleiben, sagt er.

Thorge Lorenzen geht zu einem Tageslicht-Projektor und zieht Linien auf der Folie. "Was male ich?", fragt er. Eine Fläche, Punkte, raten seine Schüler. "Ein Feld", doziert Lorenzen, "ich habe Bohnen gesät."

Er wird seinen Projektor noch häufig anwerfen. Wenn es darum geht, die Bohnen zu gießen, wie er erklärt. Wasser, Sonne, Warten. Und die Frucht gedeiht. So einfach ist das.

Morgens um vier Uhr ist Thorge Lorenzen aufgestanden. Es fiel ihm nicht leicht. 20-mal hat er zu sich gesagt: "Heute ist ein toller Tag." Dann ging es. Beschwingt lief er zur S-Bahn, die Vögel zwitscherten. Die S-Bahn brachte ihn zum Berliner Hauptbahnhof, der ICE fuhr nach Hamburg. Und jetzt, um neun Uhr, steht er hier, in einem Hamburger Seminarraum. Thorge Lorenzen lächelt die Menschen an, die kommen, um ihm zuzuhören. Heute ist ein toller Tag.

Lorenzen trägt einen gut sitzenden dunklen Nadelstreifen-Anzug, ein dunkles Hemd, eine dunkle Krawatte. Seine gesträhnten Haare hat er zur Strubbelfrisur gestylt. Lorenzen, 36 Jahre alt, könnte auch gut als Vertriebsmensch in einer Internet-Firma arbeiten. Er ist überzeugt von sich und seinem Produkt, er schaut seinen Schülern in die Augen, gestikuliert viel. Es wirkt etwas albern, wenn er mit Erwachsenen über Hummeln und Bohnen spricht. Doch die Menschen, die zu ihm kommen, nehmen ihn ernst. Weil sie etwas bei ihm suchen, das sie verloren haben: den Antrieb. Lorenzen verspricht ihnen, dass alles, was er sagt, wissenschaftlich erwiesen sei.

Thorge Lorenzen ist Motivationstrainer. Seine ersten Seminare hat er vor zehn Jahren für Studenten gegeben, dann kamen Firmen hinzu. Lorenzen motivierte Sachbearbeiter und Spitzenmanager. Und jetzt, im Krisenjahr 2010, auch noch Hamburger Langzeitarbeitslose und ihre Betreuer aus dem Jobcenter. Den Verantwortlichen in der Hamburger Arge gefiel das Konzept so gut, dass sie ihn nicht nur für die Arbeitslosen engagierten: Motivation statt Sanktion. Nicht nur für Arbeitslose, sondern auch für die eigenen Mitarbeiter.

Ralf, der Langzeitarbeitslose, und Andreas, der Mann aus dem Jobcenter, kennen sich nicht, und sie lernen sich auch im Motivationstraining nicht kennen, weil sie getrennt voneinander geschult werden, an unterschiedlichen Tagen.

Ralf und Andreas heißen im richtigen Leben anders, ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Ralf wird mit drei anderen Langzeitarbeitslosen in einer Weiterbildungseinrichtung für sozial benachteiligte Menschen in Hammerbrook von Lorenzen motiviert, Andreas mit drei anderen Arbeitsvermittlern in einem Jobcenter auf St. Pauli. Zum Arbeitslosentraining hat Lorenzen eigentlich zwölf Teilnehmer erwartet - die meisten konnten sich nicht aufraffen zu kommen.

Das Training, das Ralf und Andreas von Thorge Lorenzen bekommen, hat dieselben Inhalte. Es ist das Training, das auch Spitzenmanager und Schüler von Lorenzen erhalten. Thorge Lorenzen sagt, dass in den Deutschen noch viel Motivationspotenzial steckt, das sehe er in ihren Gesichtern auf der Straße. Ralf und Andreas sind Stellvertreter einer demotivierten Nation. Ihre Geschichte ist eine Geschichte über Erwartungen und Träume. Und über das tägliche Scheitern daran.

Lorenzen spricht über Gedanken und ihre Kraft. Bis zu 50 000 Gedanken hat der Mensch pro Tag. Seine Schüler sollen 20-mal sagen: "Ich bin müde." Es wird still. "Was haben Sie gefühlt?", fragt Lorenzen schließlich. "Ich bin müde geworden", sagt Ralf. Aha, sagt Lorenzen - die Kraft der Gedanken.

"Das nennt sich Affirmation. Das ist wie, wenn man die Gedanken durch eine Lupe schickt. Man muss die Gedanken wiederholen. Dann glaubt man es irgendwann selbst. Was haben Sie heute so gedacht, Ralf?" Der antwortet: "Hoffentlich komme ich nicht zu spät."

Es ist Zeit, die Bohnen zu gießen, sagt Lorenzen. Er schaltet wieder seinen Projektor ein. Aus den Samen sind grüne Triebe gewachsen.

Lorenzen malt einen großen Eisberg an eine Tafel. Bewusstsein und Unterbewusstsein, sagt er. Er zeigt auf den größten Teil des Eisbergs, der unter Wasser liegt, das Unterbewusstsein: "Ich nenne es die innere Stimme", sagt er. "Sie können die innere Stimme nicht abschalten. Aber Sie können sie neu aufnehmen." Deshalb ist er hier. Er sagt: "Ich möchte Ihre Erfolge zurückholen."

Aber welche Erfolge? Der Motivationstrainer verteilt Arbeitshefte. "Listen Sie 20 erfolgreiche Momente aus Ihrem Leben auf, in denen Sie stolz auf sich selbst waren", steht da. 20 Linien sind frei.

Andreas kann alle Linien ausfüllen. Bei der Telekom war seine Abteilung immer eine der erfolgreichsten in Norddeutschland. "Ich hatte viel Erfolg und habe viel mehr verdient als heute. Da muss ich keinem mehr was beweisen", sagt er. Heute setze er andere Prioritäten. "Privater Erfolg ist wichtiger. Alte Kumpels, gute Freunde zu haben." Und seine Frau.

Ralfs Zettel bleibt leer. "Ich hatte keinen Erfolg in den letzten Jahren", sagt er. Und auch aus der Zeit davor fällt ihm nichts ein.

Im Training für die Jobvermittler, in dem Andreas sitzt, fragt Lorenzen: "Warum ist mein Job so toll?" Andreas sagt, dass er jetzt keine Verantwortung mehr hat. Keinen Leistungsdruck. "Das ist wie Urlaub. Wenig zu tun." Von Herausforderungen spricht er nicht. Er ist unterfordert. Später, als Lorenzen fragt, wozu sich seine Schüler berufen fühlen, gibt Andreas zu, dass er eigentlich viel lieber etwas Handwerkliches in der Natur machen würde. Manchmal gibt es Tage, an denen er im Bett bleiben möchte. Aber dann erinnert er sich an die Zeit bei der Telekom. Und dann kann er zu seinen Arbeitslosen gehen. Auch zu denen, die muffeln, betrunken sind, aggressiv werden. Dienst nach Vorschrift macht Andreas dann. Und freut sich auf den Feierabend.

Lorenzen erzählt, dass er nach der Schule eine Banklehre gemacht hat, weil er glaubte, dass der Beruf das meiste Geld und die meiste Freizeit bringt. "Es waren die schlimmsten Jahre meines Lebens." Lorenzen erzählt, dass Ärzte während seiner Zeit bei der Bank bei ihm Lymphdrüsenkrebs festgestellt zu haben glaubten. Eine Woche lang habe er sich überlegt, was er noch alles im Leben vorgehabt hätte, dann kam die Nachricht, dass es eine Fehldiagnose war. "Warten Sie nicht darauf. Was in Ihnen steckt, ist etwas Großartiges. Machen Sie was draus. Seien Sie wandlungsfähig", sagt er.

Lorenzen ging in die USA, studierte Schauspiel, kam wieder zurück nach Deutschland, studierte internationale Betriebswirtschaft. Und wurde Motivationstrainer. Er fühlt sich dazu berufen.

Als er seinen Projektor wieder einschaltet, sind aus den Bohnensamen prächtige Pflanzen mit Blüten geworden. Als wenn es so einfach wäre mit der Motivation. Doch Ralf und Andreas und die anderen Seminarteilnehmer finden die Sache mit den Bohnen gut.

Ralf, der Arbeitslose, würde gerne wieder als Verkäufer arbeiten. Aber er bekommt es einfach nicht auf die Reihe mit den Bewerbungen. Er fühle sich vor allem dazu berufen, Computer zu spielen und Fußball zu gucken. Es gibt Tage, an denen er seine Wohnung nicht verlässt. "Ich habe Angst. Angst vor allem", sagt er.

Thorge Lorenzen, der Motivationstrainer, malt eine Europakarte. "Sie wollen mit dem Segelboot von Kiel nach Barcelona. Können Sie einfach so lossegeln?", fragt er. Natürlich nicht. "Sie brauchen ein Ziel." Er sagt, dass er 2002 seine Ziele auf einen Zettel geschrieben habe. Er wollte sieben Jahre in einem internationalen Unternehmen arbeiten und sich dann mit dem Motivationstraining selbstständig machen, schrieb er damals. Der Plan ging auf. Nach sieben Jahren bei einem internationalen Kulturaustausch-Unternehmen gründete Lorenzen im vergangenen Dezember seine eigene Motivationsfirma. So einfach ist das mit den Erwartungen und Träumen. "Stellen Sie sich an Ihrem 80. Geburtstag vor", sagt Lorenzen. "Was wollen Sie erreicht haben? Was wollen Sie in den nächsten zehn Jahren erreichen? In den nächsten fünf, in diesem Jahr?"

Andreas will seine Finanzen organisieren. Seinen Job behalten. Und in diesem Jahr eine Städtereise mit seiner Frau nach Barcelona machen. Lorenzen sagt: "Tu, was du gern tust, und das Geld läuft dir nach." Zu den Langzeitarbeitslosen sagt er: "Tu erst das Nötigste, dann das Mögliche, dann schaffst du auch das Unmögliche."

Ralf will einen sicheren Job. Eine Freundin, die seine Frau wird, Kinder - und mit seinen Depressionen umgehen können. "Ich will, dass ich weiterkomme, nicht stehen bleibe. Ich will, dass es nicht schlimmer wird", sagt er. Schon das Nötigste erscheint ihm unmöglich. Als im Seminar von Disziplin die Rede ist, schüttelt Ralf den Kopf. Disziplin hat er nicht.

Nach sechs Stunden Motivationstraining bekommen Andreas und Ralf ein Geschenk von Lorenzen. Einen Blumentopf, Bohnensamen, Blumenerde. Die Samen pflanzt Lorenzen zusammen mit seinen Schülern ein. Und er erinnert sie an die Liste, die sie ausgefüllt haben. "Diese Liste ist echt wertvoll. Lesen Sie sie immer und immer wieder durch. Es funktioniert wie bei den Bohnen. Es dauert. Leben Sie Ihre Träume!" Auf dem Topf steht: "Ich tu's einfach."

Ein paar Wochen später. Andreas klingt munter am Telefon. Ja, Lorenzens Liste hat er sich schon einige Male angesehen. Am Tag nach dem Motivationstraining hat er seine Kollegen ermuntert, doch auch ein Motivationstraining zu machen. "Die, die so was nötig hätten, haben gleich geblockt", sagt er. Das mit dem Job in der Natur wird nichts mehr, dafür hat er nicht den Mut. Aber wer weiß. Die Pflanze steht draußen, berichtet er. Er gießt sie regelmäßig. Jeden Tag könnten die ersten Triebe kommen.

Ralfs Stimme hat sich nicht verändert. Er sagt, dass das Training mit Lorenzen eigentlich ganz nett war. In die Erfolgsliste hat er nie wieder reingeschaut. Weil er sowieso nichts auf die Liste schreiben konnte. Die Sache mit der Affirmation hat er ausprobiert. "Heute ist ein toller Tag", hat Ralf immer wieder zu sich selbst gesagt, gefühlt hat er nichts. "Der Tag wird dadurch nicht besser", sagt er. Den Topf mit seiner Pflanze hat er wie Andreas nach draußen gestellt. Ein paar Katzen kamen. Und machten sie kaputt.