1990 verwandelt Andreas Brehme aus Hamburg-Barmbek im WM-Finale gegen Argentinien einen Foulelfmeter zum deutschen 1:0-Sieg.

Grünwald. Das Handy klingelt. "Ein Anruf aus Doha", sagt Andreas Brehme, 49, "al-Dschasira." Der arabische TV-Sender will letzte Details klären. Brehme soll während der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika aus dem Studio in Katar Spiele live kommentieren. "Ich hab das schon bei der Champions League gemacht. Is'n guter Job in einer paradiesischen Umgebung."

Brehme schlägt seinen Terminkalender auf, macht sich Notizen. "Am Dienstag und Mittwoch geht das nicht", sagt er auf Englisch, "da bin ich in Rom." Auch im italienischen Fernsehen, beim Staatssender Rai, sind seine Einschätzungen gefragt. Brehme spricht, "weil ich in der Fußballwelt rumgekommen bin", Italienisch, Spanisch, Englisch - und Deutsch, mit Barmbeker Akzent. "Eigentlich bin ich viel zu wenig in Hamburg", klagt er. Er hat keine regelmäßigen Verpflichtungen, "jedoch eine Unmenge zu schaffen". Brehme besitzt zwei Internet-Firmen, ist in der Werbung weiter ein gefragter Mann und reist als Botschafter des Deutschen Fußball-Bundes durch die Lande. Mit seiner Familie wohnt der geborene Hamburger in Grünwald bei München. Und bei allem Stolz über das Erreichte, "nicht schlecht für einen Barmbeker Jung mit Hauptschulabschluss, oder?", ist bei ihm eine gewisse Unruhe zu spüren. "Es kribbelt, immer häufiger", sagt Brehme. Fußballspiele nur von der Tribüne oder vor dem Bildschirm zu erleben erfülle ihn nicht. Er will wieder als Trainer arbeiten. Zuletzt tat er das vor vier Jahren als Assistent Giovanni Trapattonis beim VfB Stuttgart. Gemeinsam wurden sie entlassen.

Wer sich Brehme als Trainer vorstellen möchte - und beim 1. FC Kaiserslautern ist er zweieinhalb Jahre lang, von 2000 bis 2002, ein durchaus erfolgreicher gewesen -, der muss sich den Spieler Brehme anschauen. Schon als Knirps bei Barmbek-Uhlenhorst hatte sein Vater Bernd, "der hat noch heute als über 70-Jähriger kein Gramm Fett unter der Haut", mit ihm Extraschichten geschoben, ihn stundenlang mit links und rechts schießen und flanken lassen. "Inzwischen ist das doch gar nicht mehr möglich. Überall stehen die Weiber am Spielfeldrand und lauern auf den Trainingsschluss. Da läuft dann kaum einer mehr raus und übt Freistöße, Elfmeter oder Eckbälle. Dabei verdienen die besser denn je." Mit seinem jüngeren Sohn Alessio, 15, geht Brehme häufig auf den Fußballplatz, schult dessen rechten Fuß. "Du musst konsequent an deinen Schwächen arbeiten, sage ich ihm. Sonst reicht das nicht mal mehr für die Zweite Liga." Alessio, glaubt nicht nur der Vater, hat Talent.

Als Brehme 1980 im Alter von 19 Jahren beim Zweitligaklub 1. FC Saarbrücken Profi wird, zeichnet den Verteidiger seine Beidfüßigkeit bereits aus. Der HSV, bei dem Brehme ein Probetraining absolviert, will ihn vorerst nur in seiner Amateurmannschaft spielen lassen. "Das wäre für mich ein Rückschritt gewesen. Bei BU durfte ich als Jugendlicher schließlich schon in der Oberliga Nord ran." Brehme ist einer der vielen Hamburger Begabungen, die in der Fremde reüssieren. "Eigentlich kannst du als HSV doch nichts falsch machen, wenn du einen Hamburger bringst. Der wird von 55 000 Zuschauern getragen. Die verzeihen dem erst mal jeden Fehler." Brehme macht in Kaiserslautern, bei Bayern München und Inter Mailand Karriere.

Weltmeister wird er 1990. Brehme schießt im Finale in Rom gegen Argentinien in der 85. Minute das Siegtor zum 1:0. Es ist ein Elfmeter. Teamchef Franz Beckenbauer hat sich vor dem Endspiel auf keinen Schützen festgelegt. Vier stehen zur Auswahl: Kapitän Lothar Matthäus, Rudi Völler, Pierre Littbarski und eben Brehme. Als Völler im Strafraum gefoult wird und der Schiedsrichter nach kurzem Zögern auf den Punkt zeigt, hat Matthäus bereits den Rückzug gen Mittellinie angetreten. Später wird er sagen, dass er seinen rechten Schuh in der ersten Halbzeit wegen eines kaputten Stollens wechseln musste und sich daher unsicher fühlte. Brehme kennt solche Gedanken nicht. Er stellt sich der Verantwortung. "Ich war mir absolut sicher, den mach ich rein." Er schnappt sich den Ball, "der Rudi und der Litti wollten ohnehin nicht so gern", und legt ihn auf den Elfmeterpunkt. Zum Schuss wird er in den nächsten vier, fünf Minuten nicht kommen. "Die Argentinier haben Theater ohne Ende veranstaltet. Ständig haben sie den Ball weggetreten, mit dem Schiedsrichter diskutiert und wild gestikuliert."

Brehme nimmt das Treiben nur beiläufig wahr. Er konzentriert sich, denkt an nichts anderes als an den Elfmeter. Längst hat er sich für eine Ecke entschieden: links unten. Er wird mit rechts schießen. 1986 bei der WM in Mexiko hat er gegen die Gastgeber einen Elfmeter mit links verwandelt. Zwischendurch kommt Völler zu ihm und sagt: "Wenn du ihn reinmachst, sind wir Weltmeister." Danke schön, Rudi, antwortet Brehme. "Irgendwann herrschte dann Ruhe, und ich konnte den Ball hinlegen, ohne dass ihn einer wegschoss." Im Tor der Argentinier, des Weltmeisters von 1986, steht Sergio Goycochea. Der ist kein besonderer Torhüter, aber ein Elfmeterkiller. Im Halbfinale pariert er beim Elfmeterschießen zwei Schüsse der Italiener. "Seinetwegen sind die doch nur ins Endspiel gekommen", sagt Brehme, "sonst hatten die nichts zu bieten, selbst der Maradona nicht." Goycochea ahnt auch diesmal die Ecke. Brehmes Schuss kommt zu platziert. Deutschland ist Weltmeister.

"Das war keine Überraschung", meint Brehme, "wir hatten eine Supermannschaft mit 22 gleichwertigen Spielern. Und das Wichtigste war: Bei uns herrschte nie Stress. Die Stimmung war sensationell, fast wie im Urlaub. Unsere Frauen waren die meiste Zeit dabei. Der Franz ließ uns alle Freiheiten, weil er wusste, dass er sich auf uns verlassen konnte." 1994 in den USA bestreitet Brehme seine dritte und letzte WM. Daran hat er keine schönen Erinnerungen. "Bundestrainer Berti Vogts war überaus verkrampft, reagierte oft übernervös. Es kam ständig zu Spannungen. Wir haben weit unter unseren Möglichkeiten gespielt." Deutschland verliert im Viertelfinale 1:2 gegen Bulgarien. Brehme tritt nach 86 Länderspielen und acht Toren aus der Nationalmannschaft zurück.

Lesen Sie morgen: Manfred Kaltz war 1978 bei der WM in Argentinien der Nachfolger von Weltmeister Franz Beckenbauer als Libero. Im Rückblick erklärt er, warum die Mannschaft in Grüppchen zerfiel, was letztlich zur Schmach von Córdoba führte.