Prof. Volker Perthes, 52, ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

1. Hamburger Abendblatt:

Unterschätzt Israels Regierung die öffentliche Wirkung und weltweite Reaktion auf Zwischenfälle wie jetzt vor Gaza?

Volker Perthes:

Ja, Israel sieht sich bedroht und von einem Ring feindlicher Staaten umgeben, vergisst aber manchmal, dass der Rest der Welt einen Teil der Verantwortung für die unfriedliche Situation im Nahen Osten auch Israel zuordnet. Ebenso übersieht es, dass vor allem die demokratischen Staaten das Völkerrecht sehr viel höher halten als Israel in seiner Selbstwahrnehmung als bedrohter Staat.

2. Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser Vorfall genau aufgeklärt oder rekonstruiert wird?

Das halte ich für kaum möglich, denn israelische Behörden werden die ersten Untersuchungen in jedem Fall selbst machen. Es ist fast egal, was dabei herauskommt, in der gegenwärtig aufgeheizten Stimmung werden diese Ergebnisse kaum geglaubt werden, so nicht in der Türkei und in einem großen Teil der arabischen Welt. Ich bezweifle, dass es eine internationale Untersuchung gibt. Der müsste Israel zustimmen.

3. Kanzlerin Merkel hat die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel gestellt. Ist das ein für die israelische Armee geübter Maßstab?

Die israelischen Behörden und ebenso die Streitkräfte sprechen auch von Verhältnismäßigkeit. Aber international wird Israel als ein Staat, der sich zum Westen zählt, auch an Standards der westlichen, demokratischen Welt gemessen. Das Problem ist, dass Israel sich praktisch oft wie ein nahöstlicher Staat verhält, wo diese Standards nicht unbedingt gelten.

4. Gibt es einen Grund, Passagiere wie den Schriftsteller Mankell in Gewahrsam zu nehmen?

Das wird für Israel juristisch und politisch sehr schwierig. Eigentlich gibt es dafür keine haltbare Rechtfertigung. Die Aktivisten wollten ja nicht nach Israel und wollten auch nicht mit israelischen Soldaten in Kontakt kommen. Das Sinnvollste und Richtigste, das Israel tun kann, um den Schaden zu begrenzen, ist es, allen möglichst schnell zu ermöglichen, ohne Behinderungen nach Hause zu kommen.

5. Mit welchen politischen Folgen rechnen Sie jetzt nach diesem Zwischenfall?

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel sind auf absehbare Zeit schwer belastet. Das wird sich nicht leicht korrigieren lassen und Auswirkungen auf den Friedensprozess haben, weil die Türkei ein wichtiger Vermittler gewesen ist. Wenn Washington sich in dieser Sache an die Seite Israels stellt, wird es in der arabischen Welt kaum Unterstützung für Sanktionen gegen Iran erhalten. Wenn die USA sich gegen Israel stellen, belastet das die gespannten amerikanisch-israelischen Beziehungen und behindert Obamas Bemühungen um Frieden im Nahen Osten.