Kinderarzt Dr. Rüdiger Penthin erklärt, wann ein Kind trotzig ist - und wann schon aggressiv

Immer locker bleiben. Dr. Rüdiger Penthin kennt sich aus mit der Wut bei den Jüngsten. Der dreifache Vater ist "Elternwerkstatt Probstei"-Mitbegründer und führt Elterntrainings durch.

Hamburger Abendblatt:

Wenn wir über aggressive Kinder sprechen, wie sieht ein typischer Fall aus Ihrer Praxis aus?

Rüdiger Penthin:

Die typischen Fälle kommen immer relativ spät und oft erst in der Pubertät, wenn das Kind sozusagen schon in den Brunnen gefallen ist. Aber wir haben auch Vier- und Fünfjährige, die ihre Eltern hauen und treten. Wenn die Kinder noch jünger sind, ist es schwierig abzuwägen: Was ist noch kleinkindliches Temperament, und wo liegt bereits wirklich eine Störung des Sozialverhaltens vor? Je jünger die Kinder sind, desto eher werden sie von Gefühlen wie Wut und Ärger übermannt.

Ist das die Trotzphase?

Genau. Im Alter zwischen anderthalb und drei Jahren lernen die Kinder: Ich habe einen eigenen Willen, und wenn mir einer einen Strich durch die Rechnung macht, werde ich wütend. Und diese Wut wird sofort in die Tat umgesetzt. Das ist aber eine normale Entwicklungsphase. Erst wenn die überschüssige Neigung zur Wut und zu Impulsausbrüchen mit fünf Jahren immer noch besteht, muss man von einer Problematik ausgehen. Dies kann man jedoch oft verhindern, wenn man schon in der Trotzphase ruhig und gelassen, aber mit klarer Grenzsetzung reagiert. Also: Eltern dürfen sich von ihren zwei- oder dreijährigen kleinen "Trotzköpfen" bloß nicht attackieren lassen.

Und dann? Was sagen Sie einer Mutter, die von ihrem kleinen Kind getreten wird?

Erst einmal muss sich die Mutter fragen: Warum habe ich dem Kind so wenig entgegenzusetzen? Tue ich mich grundsätzlich schwer damit, Regeln zu setzen oder Nein zu sagen? Dann muss man erzieherische Fantasie entwickeln. Das ist die große Kunst: das Kind mit den Konsequenzen seines unakzeptablen Verhaltens zu konfrontieren, ohne es unfair und verletzend zu behandeln.

Wie schafft man das in diesem Fall?

Man könnte dem Kind sagen: "So gehen wir nicht miteinander um, sonst verlasse ich den Raum." Das Kind merkt also, wenn ich trete, kommt es zum Kontaktabbruch, aber nicht zum Beziehungsabbruch. Das ist wichtig.

Ist das in jedem Fall besser als eine Androhung von Strafen?

Ja, weil die Strafen, wie z. B. eine Woche Stubenarrest, mit dem Vorfall gar nichts zu tun haben, sich vielleicht auch nicht durchhalten lassen und sich das Kind zudem ungerecht behandelt fühlt.

Welche Fehler sollten Eltern noch vermeiden?

Problematisch ist es, wenn man nicht bei seinen Entscheidungen bleibt, weil das Kind z. B. im Supermarkt laut genug protestiert hat. Dann lernt es, dass es nur genug Theater machen muss, um zu bekommen, was es will. Wenn Kinder diese Lernbotschaft mehrfach erfahren, ist das nur noch schwer zu korrigieren.

Wie findet man im richtigen Moment die richtigen Worte?

Das kann man üben. Wie kann man streiten, ohne sich zu verletzen? Da gibt es konkrete Techniken wie z. B. die Ich-Botschaft. Dem Kind sagen, was man sich wünscht und wie man sich nach einer Kränkung fühlt. Dadurch vermeidet man eine Gegenkränkung. Auch wichtig: erst einmal zuhören, statt gleich ins Wort zu fallen. Ein paar Strategien für den Alltag reichen oft schon. Dazu gehört auch zu loben, zu lächeln und das Kind in den Arm zu nehmen.

Woher kommt die Aggressivität?

Das ist zum einen Veranlagung. Es gibt Kinder, die mit vier, fünf Jahren diese oppositionelle Störung des Sozialverhaltens zeigen. Bei einem geeigneten erzieherischen Umfeld verliert aber etwa die Hälfte diese Eigenschaft wieder.

Und die anderen 50 Prozent?

Das sind meist Kinder, die aus einem problematischen Elternhaus kommen. Wo die Eltern es aus ihrer eigenen Geschichte heraus nicht schaffen, anders mit dem schwierigen Charakter und Temperament ihrer Kinder umzugehen. Kinder aus solchen Familien haben auch öfter Aufmerksamkeitsstörungen oder kognitive Probleme. Intelligenz ist ein gewisser, wenn auch nicht hundertprozentiger Schutzfaktor gegen aggressives Verhalten.