Wolfgang K. wollte nur mal kurz etwas erledigen. Seit fünf Jahren ist er spurlos verschwunden. Seine Frau Maria wartet immer noch

Die Polizisten entdeckten ihn kurz nach Mitternacht auf dem Rasthof Neustädter Bucht, rund 90 Kilometer von Hamburg entfernt. Wolfgang K. saß in seinem grauen 3er-BMW und schlief. Er trug noch immer seine Arbeitskleidung, eine blaue Latzhose, darunter ein T-Shirt.

Es war der frühe 9. Juli 2005, ein Sonnabend. Routinemäßig überprüften die Beamten die Papiere von Wolfgang K. Ein Abgleich mit "Inpol", dem Informationssystem der Polizei, ergab, dass der Familienvater aus Hamburg-Ohlstedt am Dienstag zuvor vermisst gemeldet worden war.

Er habe zurzeit viel Stress, gab der damals 44-Jährige gegenüber den Polizisten zu, er wolle sich über einiges klar werden. Die Beamten berichteten später, er habe nicht verwirrt gewirkt. Sie baten ihn dennoch, sich zu Hause zu melden. Als sie wegfuhren, sahen sie Wolfgang K. auf eine nahe gelegene Telefonzelle zugehen.

Am Tag darauf entdeckte ein Zeuge Wolfgang K.s Wagen elf Kilometer weit entfernt, nahe der Autobahn 1. Der BMW war abgeschlossen, im Inneren lagen Wolfgang K.s Papiere, seine Kreditkarten und sogar seine Brille. Von ihm fehlte jede Spur.

Fünf Jahre später. Die Aprilsonne scheint in einen Wintergarten in Ohlstedt. In einem Korbsessel an einem großen Holztisch sitzt Wolfgang K.s Ehefrau. Maria Graff trägt eine weiße Bluse, darüber eine bunte Glasperlenkette. Sie hat helle Augen.

Zweimal habe in der besagten Nacht ihr Handy geklingelt, erzählt die 52-Jährige. Doch am anderen Ende der Leitung blieb es still, die Nummer war unterdrückt. "Es kann nur er gewesen sein", sagt Maria Graff. Sie spricht mit ruhiger Stimme, wirkt gefasst, in ihrem Inneren hallen seit fünf Jahren dieselben Fragen: Wo ist er? Warum ist er gegangen? Warum meldet er sich nicht?

Maria Graff ist fest davon überzeugt, dass ihr Mann noch lebt. "Ich weiß nur nicht wo."

In Hamburg werden nach Auskunft des Landeskriminalamts zurzeit rund 300 Menschen vermisst. Fast alle tauchen wieder auf, lebendig oder tot, so hart das klingt. Im Schnitt bleiben sieben Hamburger pro Jahr dauerhaft vermisst. Wie Wolfgang K.

"Ich bin in einer halben Stunde wieder da." Mit diesen Worten hatte sich der Schlossermeister am 5. Juli 2005 gegen 12.30 Uhr von seinen Kollegen verabschiedet, seit 20 Jahren arbeitete er in derselben Metallbaufirma nahe Trittau. Sein Handy und den Firmenschlüssel ließ er auf dem Tisch liegen.

"Am Tag bevor er verschwand, haben wir mit den Kindern abends auf der Terrasse gegessen", sagt Maria Graff. Es gab Nudeln mit zwei Soßen, Tomate und Sahne. Er mochte ihre Soßen.

Am nächsten Morgen fuhr Wolfgang K. um kurz nach fünf zur Arbeit. Die Brote, die sie ihm abends zuvor geschmiert hatte, nahm er mit. Erst später fiel ihr ein, dass er ihr an diesem Morgen ein leises Tschüs zugerufen hatte; das hatte er noch nie getan. "Er wollte mich nie wecken", sagt Maria Graff.

Als Teenager seien sie schon mal ein Paar gewesen, erzählt Maria Graff. Ihr Bruder war mit ihm befreundet, geheiratet hatten sie später andere. Maria Graff bekam eine Tochter, Wolfgang K. wurde Vater eines Sohnes, beide Ehen hielten nicht. Als sich Wolfgang K. und Maria Graff wieder begegneten, verliebten sie sich zum zweiten Mal. 1993 zog er zu ihr, ein Jahr später wurde die gemeinsame Tochter Svea geboren, 1997 heirateten sie. "Für mich war klar, dass wir zusammengehören", sagt Maria Graff. Sie macht eine kleine Pause.

Dann sagt sie: "Für die Kinder ist es besonders schlimm."

Zunächst habe sie geglaubt, dass er einen Unfall hatte. Zu verschwinden, das passt nicht zu ihm.

Vielleicht waren es die finanziellen Sorgen, die Wolfgang K. bedrückten. Etwa sechs Monate zuvor hatte sein Chef Kurzarbeit angekündigt. "Das hat ihn massiv belastet, das Geld war eh schon knapp", sagt Maria Graff. Um das Haus unterhalten zu können, arbeitet sie heute als Sprechstundenhilfe, betreut alte Leute und verkauft nebenbei Hundefutter. Svea, die gemeinsame Tochter, trägt Zeitungen aus.

"Manchmal waren wir unterschiedlicher Meinung, wenn es um die Erziehung der Kinder ging, eine Patchwork-Familie ist ja kein einfaches Modell", sagt Maria Graff. Wirklich gestritten hätten sie aber selten. "Er mochte keinen Streit." Zum ersten Mal fällt auf, dass Maria Graff immer nur von "er" spricht, sie sagt nie "Wolfgang" oder "mein Mann".

Ihr Blick fällt auf die hellen Möbel, das Orangenbäumchen in der Ecke, den großen Kirschbaum im Garten. Sie sieht ein Zuhause, von dem viele Familien träumen. "Wenn er das hier, mich nicht mehr gewollt hätte, dann hätte er das sagen können. Dann hätten wir uns scheiden lassen." Er wäre frei gewesen, sie wäre frei gewesen.

Als Maria Graff kürzlich ein Formular für die Krankenkasse ausfüllen musste, kreuzte sie zum ersten Mal "getrennt lebend" an, obwohl sie formal noch verheiratet ist. Frühestens in fünf Jahren kann sie einen Antrag beim Amtsgericht stellen und ihren Mann für tot erklären lassen.

Damals fand die Polizei an Wolfgang K.s abgestelltem Auto keinen Hinweis dafür, dass er Opfer einer Straftat geworden sein könnte. Auch auf einen Suizid hatte bis zu diesem Zeitpunkt nichts gedeutet, Wolfgang K. hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen.

Die Brille und seine Papiere im Wagen machten es plötzlich wahrscheinlicher, dass er sich doch etwas angetan haben könnte. Aus diesem Grund suchte die Polizei sofort die Umgebung ab. Ein Hubschrauber wurde entsandt, die Feuerwehr durchsuchte Flüsse und Seen, zwei Hundestaffeln wurden eingesetzt, später auch Leichenspürhunde. Zu Hause riss Maria Graff alles aus den Schränken, schüttelte jedes Kleidungsstück aus. Wolfgang K.s Vater fuhr nach Dänemark, suchte die Campingplätze ab, wo sie immer gemeinsam Urlaub gemacht hatten.

Niemand fand etwas.

"Dieser Fall ist bis heute völlig mysteriös. Wir haben keinen Hinweis, wo dieser Mann sein könnte", sagt Sonja Kurz, Sprecherin des zuständigen Polizeikommissariats in Ratzeburg. Sie hält zwei Varianten für möglich: Entweder Wolfgang K. lebt irgendwo anders, vielleicht unter fremdem Namen, oder er ist tot und sie haben ihn nicht gefunden.

"Wäre er tot, hätte man ihn gefunden", sagt Maria Graff.

Warum bricht ein Mensch plötzlich aus seinem Leben aus? Experten vermuten, dass ganz am Anfang diese Frage steht: Lebe ich eigentlich das Leben, das ich will? Einige lässt diese Frage nicht mehr los, wie ein ewiger Zweifel bohrt sie in ihrer Seele. Kommen akute persönliche, familiäre oder eben finanzielle Probleme hinzu, scheint die Flucht, einfach alles hinter sich zu lassen, Familie, Freunde, Kollegen, als einziger Ausweg.

Unabhängig davon ob mutig oder feige, es ist ein brutaler Schnitt.

"Das Vermissen lässt nach", sagt Maria Graff. Weiß sie noch, wie ihr Mann riecht? Maria Graff schüttelt stumm den Kopf.

Ein blondes Mädchen betritt den Wintergarten. Es ist Svea, die Tochter von Wolfgang K. und Maria Graff. Mund und Kinn der 15-Jährigen gleichen den Gesichtszügen ihres Vaters. Dass er gegangen ist, macht sie mehr traurig als wütend. "Er weiß gar nicht, wie es mir geht", sagt sie. Svea hatte inzwischen ihren ersten Freund.

An der Innenseite von Sveas Zimmertür hängt ein Foto ihres Vaters, auf ihrem Wäschekorb liegt sein brauner Ranger-Hut, in einem Schmuckkästchen bewahrt sie einen Bernsteinanhänger auf, ihr Vater trug ihn lange Zeit an einer Kette.

Auch Svea zweifelt nicht daran, dass ihr Vater noch lebt. "Manchmal habe ich Angst, dass er mir in der Stadt begegnet", sagt sie. "Ich weiß nicht, ob ich zu ihm gehen würde, vielleicht würde ich auch einfach alles so lassen." Vor Kurzem hat sie noch mit lila Farbe "Welcome home" neben die Eingangstür geschrieben.

Dass er eines Tages plötzlich vor der Tür steht, diese Situation hat Maria Graff schon hundertmal durchlebt. "Letztlich weiß ich nicht, was ich tun würde", bekennt sie. Umarmen könnte sie ihn nicht. "Ich würde ihn aber hereinbitten und alles erklären lassen."

Wolfgang K.s Eltern sprechen nicht mehr öffentlich über das Verschwinden ihres Sohnes. "Er war ihr einziges Kind, sie zerbrechen fast daran", sagt Maria Graff. Um ihre Schwiegereltern und seinen Sohn aus erster Ehe zu schützen, hat sie darum gebeten, dass der Nachname ihres Ehemannes in diesem Artikel abgekürzt wird.

Um in ihrem Haus ohne ihn weiterleben zu können, hat Maria Graff viel verändert. Sie hat Wände bunt gestrichen, die Möbel umgestellt, sechs Monate nach dem Verschwinden ihres Mannes kaufte sie sich ein neues Bett. "Auf die leere Seite zu starren, das war Folter", sagt sie. Die persönlichen Gegenstände ihres Mannes, seine Angelmesser, einen Teil seiner Bücher, Geburtstagsgeschenke, hat sie inzwischen in einen Umzugskarton gepackt, er steht auf dem Dachboden.

Das Telefon klingelt. Maria Graff nimmt ab, meldet sich. Niemand antwortet. "Aufgelegt", sagt sie. Sie wirkt seltsam aufgeregt in diesem Moment. Dann sieht sie die Nummer auf dem Display, sie beginnt mit 0180. Marktforschung, vermutet sie.

Mindestens einmal im Monat ruft jemand mit unbekannter Nummer an und schweigt. "Ich bin mir sicher, dass er es ist, dass er kontrollieren möchte, ob wir noch hier leben." Manchmal möchte sie einfach in den Hörer rufen: "Du hättest dich wenigstens vernünftig verabschieden können." Sie hat sich bislang nicht getraut.

Maria Graff hat eine Vision, dieselbe wie ihre Schwiegermutter. "Wir beide glauben, dass er zu einer Frau ins Auto gestiegen ist, die er im Internet kennengelernt hat, obwohl wir in seinem Computer keinen Hinweis darauf gefunden haben. Bei dieser Frau lebt er jetzt und arbeitet irgendwo schwarz, als Handwerker ist das ja nicht so schwer. Vielleicht hat er sich auch neue Papiere besorgt." Ein Bekannter habe ihr neulich erzählt, dass man die für 400 Euro am Hafen bekomme. "Obwohl das eigentlich nicht zu ihm passt."

Und dann sagt sie diesen einen Satz, der ihre ganze Erschütterung offenbart: "Ich habe ihn nicht gekannt."

Oft wünscht sich Maria Graff, die Polizei hätte ihren Mann damals einfach mitgenommen, als sie ihn schlafend im Wagen entdeckte, sagt sie.

Das Recht hatten die Beamten nicht. Wolfgang K. galt weder als selbstmordgefährdet, noch lag aus polizeilicher Sicht etwas gegen ihn vor. Solange ein Erwachsener im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist, hat er das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, auch ohne diesen Freunden und Angehörigen mitzuteilen. Dieses leitet sich aus dem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit ab. Es steht im Grundgesetz.