Die Chirurgen Christian Queitsch und Benjamin Kienast warenbei der Erdbeben-Katastrophe vor Ort. Jetzt sammeln sie mit Vorträgen Spenden.

"Als wir die ersten Spuren des Erdbebens sahen, war das ein apokalyptischer Eindruck", erzählt Christian Queitsch. "Die Hälfte der Häuser war komplett zerstört, einfach wie Kartenhäuser zusammengeklappt."

Der Chefarzt der Wedeler Klinik für Unfallchirurgie hatte im Januar zusammen mit Benjamin Kienast, Oberarzt im Unfallkrankenhaus Boberg, bei der Erdbeben-Katastrophe humanitäre Hilfe geleistet.

Doch während zwei Monate später das verheerende Beben bei vielen aus dem Gedächtnis verschwunden ist, Medienberichte seltener werden und die Spenden weniger, endete ihre Hilfe nicht mir ihrer Abreise. Kienast und Queitsch kämpfen in Hamburg gegen das Vergessen, berichten mit Vorträgen von ihren Erlebnissen und sammeln Spenden. "Wir wollen mehr als nur den Tropfen auf den heißen Stein leisten und nachhaltig helfen", sagt Kienast. Mehrere Tausend Euro haben sie schon gesammelt. "Von dem Geld wollen wir eine Orthopädie-Praxis einrichten, die die Menschen vor Ort mit Prothesen versorgt."

Wenn sich die beiden Ärzte jetzt an die Eindrücke von damals erinnern, klingen ihre Stimmen noch immer erschüttert. "Dort sind durch 60 Sekunden Erdbeben mehr als 200 000 Menschen ums Leben gekommen. Das ist so, als würden viermal die Besucher das HSV-Stadions sterben", sagt Queitsch und klingt dabei so, als müsse er sich die Dimensionen selbst auf diese Art noch einmal vor Augen führen, um sie zu begreifen. Mehr als 300 000 Menschen wurden damals verletzt, nach Schätzung der Vereinten Nationen sind von insgesamt neun Millionen Haitianern etwa 1,2 Millionen obdachlos geworden.

Es war vier Tage nach dem schweren Erdbeben in Haiti, als sich die Hilfsorganisation Humedica bei den beiden Ärzten meldete und fragte, ob sie in dem Karibikstaat humanitäre Hilfe leisten können. Die beiden befreundeten Mediziner mussten nicht lange überlegen. Schon 2004 bei dem Tsunami waren sie in Sri Lanka im Einsatz.

Nach dem Anruf ging alles sehr schnell. Die beiden Mediziner packten das Nötigste ein, Schlafsack und Isomatte - viel mehr war nicht möglich. Hamburger Krankenhäuser spendeten ihnen noch wichtiges medizinisches Gerät, am Montag darauf flogen sie aus Düsseldorf los. An Bord noch 15 andere Ärzte und 40 Tonnen Hilfsgüter.

"Unser privates und berufliches Umfeld hat uns nach der spontanen Entscheidung toll unterstützt", betonen die beiden Familienväter dankbar.

Nach zehn Stunden Flug landeten sie in der Dominikanischen Republik, von dort aus ging es mit dem Bus weiter Richtung Haiti. Ab der Grenze wurden sie zum Schutz vor Plünderungen von Uno-Blauhelmen begleitet. Nur zweimal täglich konnten Hilfsmannschaften auf diese Weise von der Grenze zu ihrem Einsatzort eskortiert werden. Zwei schlaflose Nächte später war es mittlerweile Mittwoch und genau eine Woche nach dem Beben, als die beiden Ärzte endlich in der Hauptstadt Port-au-Prince ankamen.

Das "Hopital espoir", übersetzt das "Krankenhaus der Hoffnung", hatte die Erschütterung überstanden und wurde für die nächsten 16 Tage zum Mittelpunkt der Hilfe aus Hamburg. "Das THW sagte uns genau, welchen Gebäudeteil wir nutzen können", berichtet Queitsch. "Wir haben über die Risse an der Decke Verbandsstreifen geklebt. Wenn sie sich gelöst hätten, wäre das für uns das Signal gewesen, das Haus sofort zu verlassen."

Ein alter OP-Saal wurde notdürftig hergerichtet, und von nun an arbeiteten die beiden Chirurgen unter Bedingungen, die wohl kaum vorstellbar sind, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. "Schon bei unserer Ankunft lag dort ein Opfer neben dem anderen. Sie alle mussten mit Notoperationen versorgt werden, weil sie lebensbedrohliche Verletzungen hatten, offene Brüche und schwere Entzündungen", berichtet Kienast. Viele Verletzte konnten nur mit Amputationen gerettet werden. "Die Patienten wurden zu uns auf Türen und umgedrehten Tischen statt auf Tragen gebracht, die Menschen haben in ihrer Not die Brüche abenteuerlichst mit Kokosrinden und anderen Materialien schienen müssen." Bei anderen hatte zuvor schon ein anderes Helfer-Team mit improvisierten Streckverbänden, die mit Steinen beschwert wurden, begonnen, einige der Brüche zu richten. Auch drei Wochen nach dem Beben kamen immer noch neue Patienten, die bis dahin ohne jede Betäubung ihre Schmerzen aushalten mussten. In dem Krankenhaus, in dem sie operierten, soll nun in spätestens zwei Monaten mithilfe der Spenden aus Hamburg ein Orthopädie-Meister arbeiten und Prothesen anlegen.

"Besonders dass so viele Kinder unter den Opfern waren, geht einem als Familienvater besonders nah", sagt Kienast. "Dass wir keine Röntgengeräte hatten, mussten wir mit unserer Erfahrung ausgleichen", ergänzt Queitsch pragmatisch.

Zeit zum Nachdenken über das riesige Ausmaß und die Gesichter der Katastrophe hatten die beiden während ihrer Arbeit nicht. "Man kommt gar nicht dazu, sondern sieht das Problem und strebt eine Lösung an", beschreibt Kienast den professionellen Tunnelblick während der Arbeit. "Erst abends beim Austausch mit anderen Helfern konnte man die Erlebnisse verarbeiten."

Für ihre Arbeit wurde beiden Ärzten viel Dankbarkeit entgegengebracht, doch mussten sie auch erleben, wie die Stimmung in der verzweifelten Bevölkerung mit der Zeit kippte. "Aus Transparenten mit den Worten ,we are hungry' wurden bald Plakate mit der Aufschrift ,we are angry'", erzählt Queitsch. Aus Hunger wurde Wut. Zwischenzeitlich arbeiteten die beiden Freunde auch in der Stadt Léogâne, mitten im Epizentrum des Bebens. Hier waren die Zerstörungen sogar noch schlimmer. Unterwegs mussten sie sehen, wie sich die Bewohner angesichts der vielen plötzlichen Toten nicht anders zu helfen wussten, als Leichen auf der Straße zu verbrennen.

"Ein gewisses Gefühl der Hilflosigkeit ist es schon, wenn man so einem großen Ausmaß gegenübersteht", sagt Kienast im Rückblick auf die Hilfe. Aber das Gefühl während der Arbeit sei gleichzeitig sehr schön gewesen. "Mit seinem Können gebraucht zu werden und genau das zu tun, wofür man ausgebildet ist, ist sehr befriedigend", sagen beide. Die Anerkennung für ihre Arbeit ist ihnen Dank genug.

Schon in einem halben Jahr wollen beide wieder nach Port-au-Prince reisen. "Wir werden dort noch mehr Nachversorgung leisten und Korrekturen an den Amputationsstümpfen vornehmen", sagt Kienast. Und wenn irgendwo auf der Welt erneut ihre Hilfe gebraucht wird, würden sie es wieder tun. Davon sind beide zutiefst überzeugt.

"Wir wollen mehr als nur den Tropfen auf den heißen Stein leisten."