Rund um den Straßenstrich bestimmen Drogen, Alkohol und Misshandlungen den Alltag. Im Café Sperrgebiet bekommen junge Prostituierte ein bisschen menschliche Wärme. Zwei von ihnen berichten.

Freiwillig steht niemand lange in der Kälte auf der Straße. So wie täglich zu beobachten auf dem Steindamm und rund um den Hansaplatz in St. Georg. Es sei denn, man will etwas - so oder so. Wie die Männer mit den begehrlichen Blicken. Oder wie die Frauen in den Hauseingängen, auf der Suche nach Blickkontakt. Und mehr. Verdammt jung sind sie zum Teil, manchmal schwach auf den Beinen, immer spürbar neben der Spur. Mancher Mann mag das.

Gelegentlich kommt es zum Gespräch. So wie bei dem Mädchen mit der wattierten Jacke, dem Stirnband und den weißen Moonboots kurz nach 22 Uhr. Beide tuscheln kurz, machen sich dann auf den Weg.

Momentaufnahme in einer Großstadtnacht. Ganz normal. Eigentlich. Wenn es sich bei Isabell nicht um eine junge Hamburgerin handeln würde, die das Leben bisher ausschließlich von unten sah - mit Misshandlungen, Alkohol und Drogen als Meilensteinen. Prostitution ist für sie kein Geschäft wie für die professionellen Huren im Stadtteil oder auf dem Kiez, sondern Überlebenskampf pur. Tag für Tag. Sonne in der Seele? Wärmende Hände? Verständnisvolle Ohren? Eine Perspektive? Alles verflucht weit weg.

Nicht ganz. Hinter einem gitterverkleideten Hauseingang in der Rostocker Straße brennt an manchen Tagen auch nach Mitternacht Licht. Sperrgebiet. Männer haben generell keinen Zutritt. Aus gar nicht gutem Grund. "Das Café Sperrgebiet ist ein besonders wichtiger Ort für junge Frauen, die Schutz brauchen", weiß Hamburgs Erzbischof Werner Thissen.

Pünktlich ist Isabell vor Ort. 22 Jahre alt, aus Hamburg-Berne, äußerlich eine absolut normale Frau mit ernsten, aber freundlichen Augen und gewinnendem Wesen. Bedingungen für ihre Offenheit? Nichts, entgegnet sie, nur ein geänderter Name bitte. Gilt für Freundin Ela (19) aus Wandsbek ebenso.

Vor dem Gespräch laden Isabell und Ela zum Rundgang durch die Räume. Hell und freundlich sind sie gehalten. Auf den ersten Blick fallen die vielen Kuscheltiere ins Auge. Offensichtlich besteht Bedarf. Vielsagend ist ein Wandspruch, aufgeschrieben von einer früheren Besucherin: "Wenn es draußen kalt und trübe ist, gibt es irgendwo ein kleines Licht. Es leuchtet bis ins Herz hinein, bringt uns Wärme mit seinem Schein."

Direkt gegenüber, welch Kontrast, hängen 14 Bilderrahmen mit Frauennamen. Jede Form von Trost kommt zu spät. Weil sie in den vergangenen Jahren gestorben sind. An einem diabolischen Cocktail aus Alkohol, Drogen, Straßenstrich, Einsamkeit und Verzweiflung. Bislang letztes Opfer: Jasmin B., Todestag: 5. Oktober 2008.

Vorbei führt die Besichtigungstour an Ruheräumen, es gibt ein Ärztinnenzimmer sowie zwei Zimmer mit je vier Betten. Auf den Kopfkissen liegen kleine Teddybären und Puppen.

"Mit neun Jahren kam ich erstmals ins Heim", unterbricht Isabell das Schweigen. Mit fünf Halbgeschwistern und getrennt lebenden Eltern aufgewachsen, gab es für die junge Hamburgerin stets nur Hin und Her: Heim in Malente, erste Kontakte mit Marihuana, Sozialprojekt im Ausland, wieder Heim, Alkohol, Flucht aus der Betreuung - eine Existenz ohne Fixpunkt. Schließlich wurde im Hotel gewohnt. Für 40 Euro die Nacht. So viel gab es zuvor im Heim als monatliches Taschengeld.

Das verführte. Durch Vermittlung einer "besten Freundin" unternahm sie erste Versuche, sich und den eigenen Körper zu verkaufen. "Ich hatte nie Unterstützung", formuliert Isabell, "und habe nicht gelernt, meine Ziele zu verfolgen." Der Kontakt zu den anderen Frauen im "Sperrgebiet" gebe ihr Halt, nicht weiter abzurutschen. Den Hauptschulabschluss will sie schaffen, später vielleicht als Klempnerin arbeiten.

"Der Einstieg in die Prostitution läuft nicht nach Schema F", erläutert Projektleiterin Anke Mohnert, seit 1993 im "Sperrgebiet" aktiv. Erschüttern kann die Sozialpädagogin auch heute noch einiges. Die Zahl anschaffender Mädchen nehme weiter zu und belaufe sich wohl auf mehrere Hundert in Hamburg. Manche waren schon mit 13 oder 14 Jahren auf der Straße. Wobei sich der sogenannte "Babystrich" um den Hansaplatz durch mehr Polizeipräsenz verlagert habe. Trend: Betroffene werden immer jünger. Zu den Ursachen zählen auch zunehmende Armut in der Unterschicht und wachsende Perspektivlosigkeit.

Auch Elas Leben bot wenige Glücksmomente: Permanente Prügel durch den Vater, alkoholabhängige Eltern, Heimaufenthalte, Jugendarrest, Drogen, Vergewaltigung durch einen Verwandten, Therapien, sechs Monate Obdachlosigkeit, Gefängnis auf Bewährung, wieder Therapien. Mangels Geld suchten die Jugendlichen den Rausch durch Trinken von Rasierwasser oder Verspeisen von Fliegenpilzen.

Dass auf dem Papier ausreichend staatliche Mühen und Möglichkeiten vorhanden sind, streitet keine der beiden ab. Aus unterschiedlichen Gründen indes flüchten viele vor diesen Maßnahmen. Im September vergangenen Jahres, schildert Ela, habe sie sich "erstmals richtig" an den Bordstein gestellt. Sie tut es bis heute. Doch mit den professionellen Ratgeberinnen des "Sperrgebiet" hofft sie auf einen Neustart. Der Entgiftung soll ein Schulabschluss folgen. "Ein ganz normales Leben als Einzelhandelskauffrau oder Altenpflegerin, das wäre mein Traum", sagt sie.

Die beiden holen sich noch einen Kaffee. Seit fast 20 Jahren kochen dort regelmäßig die "Harburger Frauen", Ehrenamtliche der Apostelkirche. Die Wunschgerichte, auf einer Liste am Küchenschrank notiert, versinnbildlichen die verborgene Sehnsucht nach bürgerlicher Normalität. Rouladen und Königsberger Klopse stehen weit oben.

Isabell und Ela gönnen sich noch eine Pause in der Sitzecke. Eine Lavalampe leuchtet; Schokoriegel und Obst stehen bereit. Am Schwarzen Brett hängt das Credo einer Kollegin: "Aufgeben ist das Letzte, was man sich erlauben darf!" Die beiden jungen Frauen gehen daran vorbei, als sie hinaustreten in die Dunkelheit. Richtung Hauptbahnhof.