Seitdem Künstler den Teilabriss des Gängeviertels verhindert haben, ist “Gentrifizierung“ zu einem geflügelten Wort geworden.

Hamburg. Wir leben in seltsamen Zeiten: Früher wollten nur Erzkonservative alles belassen wie es ist, der Erhalt des Status quo klang allen anderen wie eine Drohung in den Ohren. Heute hingegen birgt der Status quo etwas Verheißungsvolles - ach könnte doch alles so bleiben. Mit besonderer Wucht hält dieser Neokonservativismus Einzug in der Stadtentwicklung. Seitdem Künstler dankenswerterweise das Gängeviertel besetzt und dessen Teilabriss verhindert haben, ist ein Fremd- zu einem geflügelten Wort geworden: Gentrifizierung. Der Begriff hat inzwischen für viele einen so scheußlichen Klang wie Eiswinter, Steuerhinterziehung oder Hämorrhoiden. Allüberall kämpft man gegen das Gespenst der "Gentrification".

Dabei beschreibt der soziologische Begriff eine Entwicklung, die man einst Aufwertung von Stadtteilen genannt hätte: Ein Viertel, das unter einer schwierigen Sozialstruktur mit einkommensschwachen Bewohnern, wenig Gewerbe und viel Leerstand darbt, wird von jungen Leuten entdeckt. Zunächst ziehen vor allem Studenten und Künstler in die Gegend, ihnen folgen kleine Gewerbetreibende und Firmen. Peu à peu verändert sich die Sozialstruktur, Investoren werden zunehmend auf das Viertel aufmerksam. Sie beginnen, in die Altbausubstanz zu investieren, sanieren sie und ziehen Besserverdienende an - ihnen folgen weitere Geschäfte, Kultureinrichtungen, Unternehmen. So weit, so gut - doch auf der Strecke bleiben oft die Alteingesessenen. Sie können die neuen Mieten nicht zahlen und werden verdrängt. Um dies zu verhindern, wollen Senat und Bezirke nun Schutzverordnungen für gefährdete Viertel in Kraft setzen. Dabei geht es vor allem um das Verbot der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und zusätzliche Auflagen und Genehmigungen bei allen Bauvorhaben. Das alles ist gut gemeint - aber ist es auch gut?

Sicherlich sind gerade in Vierteln wie auf St. Pauli oder im Karoviertel im Sinne einer behutsamen Stadtentwicklung Bremsen für eine Yuppisierung angeraten. Doch Städte sind keine Naturschutzgebiete, in denen Menschen ausgesperrt gehören, sondern Lebensräume im permanenten Wandel. Und was ist für die Stadtentwicklung auf St. Pauli eigentlich verheerender - die Hochhäuser aus Glas und Beton à la Gotham City auf dem alten Astra-Gelände oder teure Dachgeschosswohnungen im sanierten Altbau?

Bevor Gentrifizierung zum Schimpfwort wurde, war sie wohlgelitten. In Berlin etwa hat nur sie die Stadtteile Prenzlauer Berg und Friedrichshain zu dem gemacht, was sie heute sind: Voll sanierte Altbauviertel mit lebendiger Gastro-Szene, florierendem Gewerbe, einem pulsierenden Leben. Das Steueraufkommen steigt, die Infrastruktur verbessert sich, die Kriminalität sinkt. Gegenüber 1999 hat sich in Friedrichshain beispielsweise die Zahl der Gewerbebetriebe mehr als verdoppelt. Hätte man mit besonders strengen Schutzvorschriften eine solche Urbanisierung erreicht?

Man muss gar nicht bis zur Spree blicken - auch an der Elbe gibt es eindrucksvolle Beispiele für eine gelungene Gentrifizierung, wie in Ottensen. Bis in die 80er-Jahre hinein galt Mottenburg als verlorener Stadtteil, der unter Arbeitslosigkeit, Armut und Abwanderung litt. Das Blatt wendete sich erst, als junge Pioniere den Stadtteil neu entdeckten. Ihnen folgten Mittelschichtsfamilien, die die Sozialstruktur erweiterten und überhaupt das nötige private Investment, etwa für die Sanierung der Altbauten, mitbrachten. Die Entwicklung wiederholte sich in der Schanze und nun auf St. Pauli. Ja, mit dem Versuch, Künstler und Studenten auf der Veddel anzusiedeln, fördert der Senat Gentrifizierung sogar mit Steuergeld - und das zu Recht. Mitunter wirkt die Kritik an der Aufwertung ohnehin schrill; etwa, wenn sie beim Latte Caramel auf dem Schulterblatt geäußert wird. Oftmals sind die, die den Wandel kritisieren, nicht nur Vorreiter, sondern auch Verstärker, wenn sie die verbesserte Infrastruktur nutzen, in den neuen Cafés sitzen oder im Ökoladen einkaufen.

Das Problem ist nicht die Gentrifizierung, sondern ihre radikale Vollendung - nennen wir sie ruhig die Eppendorfisierung. Wenn es gelingt, neue Menschen in die Viertel zu bringen, ohne die Mehrheit der Alteingessenen groß zu verdrängen, ist ein Ziel jeder Stadtentwicklung, ja jeder Gesellschaft erreicht: Dass nämlich Arm und Reich weiter in einem Stadtteil nebeneinander leben, in dieselben Kneipen gehen und, besonders wichtig, ihre Kinder auf die gleichen Schulen schicken.

Mit derselben Energie, mit der man jetzt Besserverdienende aus Szenevierteln fernhalten möchte, sollte man einmal über den sozialen Wohnungsbau in besseren Vierteln nachdenken.

Ein letztes Wort auch zur Verdrängung. Es gibt ein Recht auf Stadt, aber kein Recht auf einen Wunschstadtteil. Wenn die verbürgerlichten Ex-Szeneviertel irgendwann zu langweilig werden und die Karawane weiterzieht, ist das kein Grund für neue Schutzvorschriften, sondern einer zur Freude. Zu entwickelnde Stadtteile gibt es in Hamburg noch mehr als genug.

Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.