Die 86-jährige Irmgard Kock lag im Sterben - es gab schon einen Beerdigungstermin. Aber sie behielt ihren Willen. Heute geht es ihr blendend.

Hamburg. Der Bestatter war schon bestellt. Am 20. Juni 2008 sollte Irmgard Kock beerdigt werden. Zwei Tage, vielleicht ein bisschen mehr, hatten die Ärzte der 86 Jahre alten Frau noch zum Leben gegeben. Für andere - für die meisten alten, kranken Menschen - wäre das wohl das Todesurteil gewesen. Aufgegeben von der Gesellschaft, geben sich alte Menschen auch selbst auf.

Aber Irmgard Kock lebt. Und wie. Von einem Wunder will niemand sprechen, aber die Genesung sei schon sehr bemerkenswert, sagen ihre Freunde. Der Fall der alten Dame gibt denen Hoffnung, die auch alt und krank sind. Und er zeigt, dass die eigene Willenskraft, die Pflege von Freunden oder Angehörigen so lebenswichtig sind. Pflege geht eben alle an, sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Irmgard Kock, für alle nur "Irmchen", sitzt in ihrem Rollstuhl. Sie trägt ein dunkles Wollkostüm, einen fliederfarbenen Pullover und schwarze Stiefel mit Fellbesatz. Am meisten ärgert sie sich an diesem Mittag darüber, dass die Gardinen vor ihrem Fenster in der Seniorenresidenz Uhlenhorst fehlen, weil sie gerade gereinigt werden. Ihr geht es gut, sagt sie. Nur schwerhörig ist sie. Man muss direkt vor ihr sitzen, damit sie einen versteht. "Etwas kriegt man doch ab, wenn man älter wird", sagt sie mit einer lauten, kräftigen Stimme. "Die Ärzte hatten mich schon abgeschrieben." Sie lacht. Das macht sie gern. Der liebe Gott, sagt sie, habe sie noch nicht haben wollen. Damals, vor eineinhalb Jahren.

Im Sommer 2008 war Irmgard Kock bettlägerig und sterbenskrank. Ihr Leben war in eine Kategorie gefallen - Pflegestufe III. Das bedeutet: Schwerstpflegebedürftigkeit. Rund um die Uhr brauchte Frau Kock Unterstützung. Der Toilettengang war allein unmöglich. Wie ein Baby musste sie Windeln tragen. Ihr Hausarzt, Volker Jänisch-Dönges, sagt: "Frau Kock kam nach Nierenversagen und schwerer Blutarmut aus dem Krankenhaus ins Pflegeheim. Hinzu kam noch eine Lungenentzündung. Sie war verwirrt und schlecht ansprechbar. Wir waren davon ausgegangen, dass sie nicht mehr lange leben wird."

Mit Antibiotika und Infusionen hat ihr Hausarzt die Lungenentzündung wieder in den Griff bekommen. Aber Volker Jänisch-Dönges ist nicht nur ihr Arzt, er ist auch ein Freund. Es ist nicht die Medizin allein, die geholfen hat. Es sind vor allem die Menschen. Der Hausarzt: "Sie ist außerdem eine willensstarke Persönlichkeit." Das sagen alle, die "Irmchen" kennen.

"Bei vielen alten Menschen, die aus dem Krankenhaus entlassen werden, wartet nicht einmal der Kanarienvogel auf sie. Sie haben überhaupt kein soziales Netz", sagt Professor Wolfgang von Renteln-Kruse, Leiter der Geriatrischen Klinik am Albertinen-Krankenhaus. "Was soll für einsame, alte Menschen die Triebkraft sein, wieder gesund zu werden, wenn sich niemand für sie interessiert?"

Für Frau Kock interessieren sich die Menschen. Hanna Dietzel, seit mehr als 50 Jahren die beste Freundin, sagt: "Ich war jeden Nachmittag bei Frau Kock und habe aufgepasst, dass sie sich die Infusionen nicht wieder aus dem Arm reißt. Sie war ja total verwirrt." Jede Woche fährt die 87-Jährige eine Dreiviertelstunde von Eimsbüttel zu ihrer Freundin Irmchen auf die Uhlenhorst. Frau Dietzel bringt Frau Kock dann Lachs mit und Aal. Auch Hummer und Garnelen mag sie sehr gern. Früher hatte Irmgard Kock eine eigene Confiserie an der Großen Johannisstraße. Senatoren, Reeder, Notare und Kaufleute kauften bei ihr ein.

Andreas Hoffmann, Leiter der Seniorenresidenz Uhlenhorst, sagt: "Ihre Willenskraft und ihre Energie und eine kontinuierliche, adäquate Pflege haben Frau Kock geholfen, wieder gesund zu werden." Verwandte oder Kinder hat die Witwe nicht. Das muss nicht schlimm sein, wenn man gute Freunde hat.

Zu den Menschen, die sich um Frau Kock kümmern, gehört auch Ascan Pinckernelle, seit mehr als 30 Jahren Freund, Notar und nun ihr Generalbevollmächtigter. Er sagt: "Irmchen war abgemagert. Es ging ihr verdammt schlecht. Ihre Beisetzung war schon geplant. Sie hat sich erstaunlich berappelt." Mindestens einmal die Woche kommt Herr Pinckernelle in die Seniorenresidenz, natürlich auch in der Zeit, als es der alten Dame schlecht ging. "Irmchen hat schon immer die Menschen um sich geschart", sagt er. "Sie war immer die Mutter der Kompanie, auch in ihrem Wohnhaus in Hohenfelde. Sie hat sich um alles gekümmert." Jetzt kümmern sich andere um sie.

Professor Renteln-Kruse: "Die Pflege eines sozialen Netzes ist essenziell wichtig. Und nicht immer sind damit Familienangehörige gemeint. Freunde und eine Vertrauensperson sind starke Triebkräfte, um wieder gesund zu werden. Ein Pflegeheim ist keine Einbahnstraße. Auch Hochbetagte können sich gesundheitlich wieder verbessern." Die "LUCAS-Studie" unter mehreren Tausend Hamburger Senioren über 60 Jahre ergab, dass jeder zehnte von ihnen keine Vertrauensperson im Krankheitsfall oder bei Problemen hat. "Das ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung: Die Individualisierung nimmt weiter zu", so Professor Renteln-Kruse.

Thomas Strege ist persönlicher Betreuer und ein guter Freund seit 20 Jahren. Er kümmert sich um die Einkäufe, um Behördengänge, wickelt Rechnungen für Frau Kock ab. Hin und wieder begleitet er Irmgard Kock in ihrem Rollstuhl nach draußen. Dann gehen sie beim Portugiesen oder im "Dorfkrug" am Hofweg essen.

Es gibt Leute, sagt Irmgard Kock, die sind träge und lassen sich bedienen. "Das regt mich immer auf. Wenn jemand lahm ist und bequem, das kann ich nicht haben." Man müsse schon mitarbeiten. "Wenn man krank ist und die Schultern hängen lässt - dann wird das auch nichts mit dem Gesundwerden", sagt sie. Dann muss Frau Kock los. Sie will sich doch die Modenschau in der Seniorenresidenz noch angucken. Vielleicht kauft sie auch etwas.