Walter Werner ist noch immer stolz auf sein Werk. 80.000 Hamburger hatten zugesehen, als das Gebäude in sich zusammenbrach.

Hamburg. Die Explosion ist so stark, dass man sie noch kilometerweit hören kann. Um 13.01 Uhr zünden die 180 Kilogramm Sprengstoff, die auf 3000 Kapseln im Gemäuer des ehemaligen Iduna-Hochhauses am Millerntorplatz verteilt sind. Das Gebäude sackt in sich zusammen. Dreieinhalb Sekunden später ist von dem 78 Meter hohen Koloss nur noch ein staubender Schutthaufen aus 13 000 Tonnen Stahl und Beton zu sehen. Unter den 80 000 Menschen, die im Sicherheitsabstand von 200 Metern hinter Absperrungen stehen, bricht Jubel aus. Eine Bilderbuch-Sprengung.

Und dabei hatte Sprengmeister Walter Werner sich beim Countdown vor Aufregung noch verzählt. "Fünf, vier, zwei, zwei, eins." Doch nun fällt Werner seiner Frau erleichtert in die Arme. Vier Monate Vorbereitungszeit und ein nervenaufreibendes Warten auf den immer wieder verschobenen Sprengtermin liegen hinter ihm. Lediglich fünf Scheiben von benachbarten Gebäuden sind zerborsten. Für den heute 66-Jährigen ein voller Erfolg.

An den 19. Februar 1995, ein Sonntag, erinnert sich Werner gern zurück. "So ein großes Gebäude hatte ich bis dahin noch nicht gesprengt." Noch immer ist er stolz auf den deutschlandweit ersten "Vertikal-Kollaps". So wird das Sprengen genannt, bei dem das Gebäude in sich zusammensackt. "Technisch sehr anspruchsvoll." Bis dahin hatte die Abrisszunft Keile in die Hochhäuser gesprengt und diese damit einfach auf die Seite gelegt. "Aber dafür hatten wir auf St. Pauli ja keinen Platz."

Dem Sprengtermin war eine jahrelange Gutachter-Farce vorausgegangen. Schon im Januar 1993 lag eine Abrissgenehmigung für das Iduna-Haus vor. Es stand bereits seit 1987 leer, weil Asbest durch Ritzen in die Räume rieselte. Das 1966 fertiggestellte Gebäude hatte einst das Oberverwaltungsgericht, den Datenschutzbeauftragten, Reedereien und Ingenieurbüros beherbergt. Als die Richter schließlich mit Atemschutzmasken und in Schutzanzügen arbeiten mussten, begann der Exodus. Aufwendige Sanierungen blieben erfolglos, die Mieter aus.

Anfang der 90er-Jahre war dann klar, dass nur noch ein Abriss infrage kam. Doch das Problem der krebserregenden Fasern blieb. Sie mussten vorher beseitigt werden. Immer wieder widersprachen sich Gutachten und Gegenexpertisen nach den Sanierungsarbeiten, ob die Ruine denn nun asbestfrei sei oder nicht. Das Abendblatt spottete noch Anfang Februar 1995, dass Hamburg gut daran täte, "das Iduna-Haus als Denkmal für die Entdeckung städtischer Langsamkeit zu erhalten".

Etwa zur gleichen Zeit hatten Walter Werner und seine Mannschaft bereits die 3000 Bohrlöcher für die Sprengkapseln in den Beton gebohrt. Als sie an einem Morgen schließlich den Sprengstoff einfüllen wollten, kamen Mitarbeiter des Amts für Arbeitsschutz auf die Baustelle und stoppten die Aktion. "Wir haben dann die 180 Kilogramm Sprengstoff wieder eingepackt und sind erst mal zurück nach Hause gefahren", erinnert sich Werner.

Schließlich kam dann doch die Genehmigung. Vier Tage brauchte Walter Werner mit seinen Mitarbeitern. Dann war das Iduna-Hochhaus "scharf". Am Sonnabendnachmittag hatte er noch einmal alle Kontakte durchgemessen. Dann war nichts mehr zu tun. Werner, der im benachbarten Imperial-Hotel wohnte, ging abends noch mit seiner Frau zum Chinesen essen und in das Oase-Kino. "Wir haben einen Doris-Dörrie-Film gesehen." Natürlich sei er nervös gewesen. "Aber es gab kein Zurück mehr. Man muss es dann einfach auch lassen", sagt er. "Wir Sprengmeister vertrauen auf Gott und die Schwerkraft."

Nach einer unruhigen Nacht ("ich bin zwei-, dreimal aufgewacht") trank er Kaffee bei McDonald's. An seiner Seite ein Polizist von der Davidwache. "Damit ich nicht abhaue", scherzt Werner. Der Beamte sollte lediglich sicherstellen, dass der Sprengmeister jederzeit erreichbar war. Um 12.55 Uhr gab die Einsatzzentrale der Polizei schließlich die Sprengung frei. Über Funk benachrichtigte Werner seinen "Sprengbeauftragten" Ali Özdek, dass es losgehen könne. "Aktion Barbara kann starten", lautete der verabredete Code - und Özdek drehte die Kurbel des Sprengkastens. "Das Hochhaus war so schön kaputt", schwärmt Walter Werner noch immer.

Drei Jahre nach Werners Einsatz, 1998, ist das neue 41 Meter hohe Millerntor-Hochhaus für 150 Millionen Euro fertiggestellt worden. Immer wieder hatte das Bürohaus mit Leerständen zu kämpfen gehabt. Unter anderem zog der Online-Dienst AOL ein und wieder aus. Heute befinden sich in den zehn Stockwerken die Deutsche Rentenversicherung, IT- und Immobilienunternehmen und Restaurants sowie Tiefgaragen. Gut drei Viertel der Fläche sind vermietet.

Die Sprengung von 1995 leitete einen Wandel auf dem Kiez ein. Mittlerweile sind andere Großprojekte umgesetzt worden. Etwa das ehemalige Bavariagelände. Und gegenüber am Zirkusweg ist die alte Bowlingbahn abgerissen worden. Dort entstehen nun die "Tanzenden Türme" von Architekt Hadi Teherani.

Für Walter Werner bleibt die Sprengung der Höhepunkt seines beruflichen Lebens. Noch nie hatte er derart viele Zuschauer. Zwar habe er wegen der Querelen um den Sprengtermin ein finanzielles Minus gemacht. "Wir haben in dieser Zeit ja keine anderen Aufträge annehmen können." Dennoch hat ihn der erste "Vertikal-Kollaps" Deutschlands bundesweit bekannt gemacht - und weitere Aufträge beschert. Zwar sei die Arbeit schon sehr anspruchsvoll gewesen. "In Wahrheit ist eine Sprengung aber etwas sehr Einfaches", sagt Werner. "Man muss nur die Luft aus dem Gebäude lassen."