Mit Karl Marx vergleicht er sich schließlich doch, allerdings nicht ohne sich von dessen Schwielen am Hintern zu distanzieren. "Der hat sich auch jahrelang zurückgezogen", sagt Uwe Timm. "Auch ich lese und suche wie ein Freibeuter, was mich interessiert. Und wenn ideologische Konterbande auftaucht, gehe ich mit dem Enterhaken dran." Nun ist der schwielenfreie Hintern ein wichtiger Hinweis, wird Karl Marx doch von einem umstrittenen Dermatologen nachgesagt, sein eher düsteres Weltbild sei auch davon beeinflusst gewesen, dass er in späterer Lebensphase nur unter Schmerzen sitzen und schreiben konnte.

Autor Uwe Timm, der am Mittwoch auf Einladung der Fachschaftsrätekonferenz und der Kampagne "Gebührenfreies Studium" im Philosophenturm über sein 68er-Buch "Heißer Sommer" diskutierte, scheint frei von solchen Beschwerden. "Witz gehört zum Protest dazu", sagte Timm, der den Studierenden im überfüllten Hörsaal ausdrücklich keine guten Ratschläge erteilen wollte, aber sie dafür immer wieder zum Lachen brachte. Bereits sein 1974 veröffentlichtes Buch befasst sich - teilweise - selbstironisch mit der Bewegung. Dort diskutieren Studenten über einen Professor Renke, der 1940 schrieb: "Die Erzieher müssen in den Kindern eine reine Liebe zum Führer wecken" - und trotzdem nach Kriegsende weiter lehren durfte:

"Jemand hält das für eine Jugendsünde. Derjenige, der das Zitat vorgelesen hatte, gibt zu bedenken, dass Renke damals immerhin schon 35 gewesen sei. Jemand schlägt vor, keinem über 30 zu trauen. Einer behauptet: Irren ist menschlich, und übersetzt es gleich ins Lateinische. Ein anderer vermutet, Renke habe vielleicht aus seinen Fehlern gelernt. Jemand steht auf und sagt: Die Naivität macht mich sprachlos, und erklärt, warum."

Ob der Autor damit sagen wolle, dass chaotische Zustände von damals nicht zeitgemäß seien, will einer wissen. "Chaos ist nur aus bürgerlicher Sicht negativ besetzt", sagt Timm. "68 ging es auch darum, die eigene Individualität zu entdecken, seine Meinung zu äußern, sogar in voll besetzten Seminaren."

Ein Germanistikprofessor steht auf: "Ihre Selbstinterpretation geht gegen den Strich dessen, wie ich Ihr Buch gelesen habe." Er warnt, die Inhalte von damals auf heute zu übertragen. Die Gesellschaft sei eine andere, gemeinsame Ziele, etwa Protest gegen den Vietnam-Krieg, würden fehlen. Zudem stehe der Protagonist des Buches am Ende mit persönlichen Entscheidungen alleine da, seine Studentengruppe könne ihm dabei nicht helfen. Ein älteres Semester entgegnet: "Natürlich gibt es eine historische Vergleichbarkeit: Sie sitzen ja hier." Der Professor antwortet: "Sie ordnen mich falsch ein. Ich bin nicht 68er, sondern die Generation danach."

Uwe Timm sagt, natürlich seien die Zeiten heute andere. Strukturen an der Uni seien damals "feudal" gewesen, einige wissenschaftliche Mitarbeiter hätten "Frau Professor" beim Bügeln helfen müssen. Dennoch: Einige Erfolge der Proteste seien noch immer spürbar: "Guido Westerwelle hat geschimpft, die 68er hätten die Arbeitsmoral verwahrlosen lassen. Aber dass er mit seinem Freund die Festsspiele in Bayreuth besuchen kann, das hat er dem Kampf für die Emanzipation von Randgruppen zu verdanken." Außerdem gebe es auch heute noch kollektive Zielsetzungen: "Sieben Millionen Menschen in Deutschland unter der Armutsgrenze, Discounter zahlen ihren Verkäufern nur Hungerlöhne." Da helfe nur ein Boykott. Timm zitiert Herbert Marcuse:

"In einer Gesellschaft, welche sich durch die wirtschaftliche Konkurrenz reproduziert, stellt schon die Forderung nach einem glücklicheren Dasein eine Rebellion dar."

Die "neoliberalen Akteure" von heute seien fleißig und informiert, sagt Timm, und würden geschickt den Status quo verteidigen. "Sogar Politiker sagen, das System mit Bachelor und Master sei Mist - aber was ändern sie? Nichts!"

Wie man protestieren solle, fragt eine Studentin, wenn überall Anwesenheitslisten geführt würden und man so schnell studieren müsse, dass keine Zeit für Originaltexte bleibe, sondern nur für Lehrbücher. Timm: "Wenn das stimmt, lernt Gedichte auswendig - tragt sie den Professoren vor, bis sich etwas ändert."