Der ständige Blick in den Spiegel. Hungern, bis jegliche Freude am Leben vergeht. Protokoll einer Essgestörten.

Mittwochmorgen, 6.25 Uhr, wieder 200 Gramm mehr auf der Waage. Die Waage muss defekt sein. Ich geh wieder runter und noch mal rauf. Keine Veränderung, es ist zum Verzweifeln. Andererseits, wie sollte es auch vorwärts gehen? Drei Portionen Müsli zum Abendbrot führen normalerweise nicht zu einem Gewichtsverlust. Etwa so spielte sich in letzter Zeit fast jeder Morgen ab, nachdem ich die Diät beendet hatte - mein tägliches Morgengrauen.

Natürlich hatte ich in unzähligen Internetforen bereits von diesem sogenannten Jo-Jo-Effekt gelesen, aber nie daran geglaubt. Sechs Monate sind seit der Diät vergangen, doch die Folgen sind immer noch deutlich spürbar. An einem Tag im Juni beschloss ich, endlich abzunehmen. Mein Ernährungsplan: 400 kcal und sechs Liter Wasser täglich. Die ersten Erfolge zu Beginn waren berauschend, vier Kilogramm in sieben Tagen. Auch die Komplimente von meinen Eltern und Freunden zu meiner Figur trugen zu meiner wachsenden Euphorie bei. Über die Warnsignale meines Körpers, wie das Abbrechen meiner Nägel, schaute ich einfach hinweg. Soll er doch froh sein, weniger Gewicht tragen zu müssen, dachte ich.

Unglaublich stolz fing ich an, die T-Shirts meiner jüngeren Schwester zu tragen, in die ich nach bereits zwei Wochen locker hineinpasste. Mein Bauch war verschwunden und irgendwann mit ihm auch meine Fröhlichkeit. Für vieles war ich inzwischen zu schwach, selbst beim Gesangsunterricht hatte ich keine Kraft mehr, die Songs zu Ende zu singen. Während ich abnahm, begann die Angst, zuzunehmen, zu steigen. Die Tage bestanden nur noch aus Kalorienzählen. Abends konnte ich nicht einschlafen vor Hunger, denn ich sah ständig die leckersten Gerichte vor meinen Augen. Albträume, in denen ich nur von einem Brötchen abbiss, waren keine Seltenheit mehr. Und dabei hatte alles recht harmlos angefangen. Von 400 Kilokalorien täglich konnte man ja noch leben, aber irgendwann tauschte ich die kleine Portion Nudeln zum Mittag in einen Salat um, danach ließ ich die Salatsoße weg und so weiter. Nicht einmal einen Brotkrümel konnte ich mehr hinunterkriegen. Dann hörte ich ganz auf zu essen.

Meine Eltern machten sich verständlicherweise um mich Sorgen und wollten mir helfen, doch ich fühlte nur, dass sie gegen mich arbeiten würden. Als ich nach sechs Wochen zehn Kilo abgenommen hatte, konnte ich mich kaum noch freuen - selbst dazu war ich inzwischen zu schwach. Verabredungen mit Freunden sagte ich ab, um den Versuchungen des Essens aus dem Weg zu gehen, und an Sport war erst recht nicht zu denken. Ich isolierte mich in meinem Zimmer, und meine Freundschaften schienen mir zu entgleiten. Kein Wunder. Die Wende kam, als wir zu einem Grillabend bei Freunden eingeladen wurden. Plötzlich sah ich alles ganz anders und war überzeugt, ordentlich reinhauen zu können, ohne zuzunehmen. Ich plante, die nächsten Tage einfach wieder Diät zu machen, dann würde das schon klappen.

Aber ich hatte die Situation unterschätzt. Als ich meinem hungrigen Körper erlaubte, wieder zu essen, verlor ich die Kontrolle. Tage vergingen, an denen ich alles in mich hineinstopfte, was mir in die Quere kam. Ich konnte zusehen, wie mir mein gesamter hart erkämpfter Erfolg aus den Händen glitt und sich in Körperspeck verwandelte. Nach kurzer Zeit 15 Kilogramm mehr auf den Hüften - ein Albtraum. Meine Hosen begannen wieder enger zu werden, bis ich sie nicht mehr tragen konnte. Weite Pullis waren das Einzige, was ich noch anzog. Essen war für mich keine Freude mehr. Ich aß und aß und wartete auf das Gefühl von Zufriedenheit oder Glück, welches ich früher während des Essens gespürt hatte, aber es kam nicht mehr. Ich hatte es ausgehungert.

Meine Eltern hatten die ständigen Diskussionen über meine Ernährung satt und waren der Ansicht, dass nur noch professionelle Hilfe eine Lösung bringen konnte. Einmal wöchentlich ging ich zu einer Beratungsstelle für Essstörungen, und wir sprachen über andere mögliche Ursachen meines Essverhaltens, über die ich bisher noch nicht nachgedacht hatte. Heute kämpfe ich zwar immer noch mit meiner Ernährung und meiner Figur, doch seit der Beratung versuche ich, gemeinsam mit meiner Familie dieses Problem in den Griff zu bekommen. Ich bin mir sicher, dass ich eines Tages unabhängig von Essen oder Nichtessen glücklich werden kann.

Warum ich das erzähle? Weil ich froh gewesen wäre, wenn ich damals das Gefühl gehabt hätte, nicht die Einzige mit diesen Problemen zu sein.