Sie sind Tag und Nacht im Dienst. Nur, um in dem Moment hellwach zu sein, wenn ein Schiff in Seenot gerät. Dann geht es um Menschenleben. Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger wird bis heute nur über Spenden finanziert - und das ist das Problem, denn die werden immer weniger. Eine Reportage von Axel Tiedemann

Die Nordsee wirkt so trostlos wie der riesige verlassene Parkplatz am Cuxhavener Fährhafen. Es nieselt, und ein kalter Wind weht vom Wasser her über das Pflaster. Der Anleger für die Seebäderschiffe ist verwaist, und auch die Yachten, die hier sonst an einem langen Steg festgemacht haben, sind seit Wochen schon im Winterlager. Ganz am Ende, mit dem Bug fast schon im Meer, dümpelt dort nur der sig-nalfarbene Seenotkreuzer "Herman Helms". Ein hellrot-weißer Fleck im düsteren Dezember-Grau.

Im Steuerhaus kämpft Vormann Jörg Bünting mit einem Computer. Mit seinen großen Händen sucht der stämmige 63-jährige Ostfriese Buchstabe um Buchstabe. Seine grauen Haare sind verwuschelt. Mit Papier ginge das alles viel schneller. "Nee", sagt er, "ich bin mehr fürs Handmade" und hackt den Bericht vom letzten Einsatz in die Tastatur:

Der Erste Ingenieur eines Frachters in der Elbmündung war mit extremen Magenschmerzen plötzlich zusammengebrochen. Eine Notfallmeldung über Funk, kurz vor Mitternacht.

Minuten später hatte Bünting seinen Rettungskreuzer klar, die vierköpfige Crew löste Leinen und Stromkabel zum Anleger, startete die vorgewärmten Motoren und schlüpfte eilig in ihre dicken Überlebensanzüge, streifte die Rettungswesten über. "Gestiftet von der Sparkasse Cuxhaven", steht da drauf. Bünting stellte oben auf dem offenen Steuerstand die Steuerhebel auf Voraus. "Die Hebel auf den Tisch legen", wie er sagt, und der Kreuzer preschte mit seinen 3200 PS in die kalte Nacht der Nordsee. Raus zu dem Frachter, der den Notruf auf dem Weg zum Atlantik abgesetzt hatte. Es war ein akuter Magendurchbruch, stellten später die Krankenhaus-Ärzte fest.

Vormann Bünting blickt wieder vom Computer hoch: "Wäre der Dampfer schon weiter draußen gewesen, hätten wir den Mann nicht schnell übernehmen können, und er wäre jetzt tot." Wie vielen Menschen er schon das Leben gerettet hat, zählt er nicht. Auch Rechnungen nach solchen Seenotfällen gibt es nicht. "Wir sind Seenotretter, keine Buchhalter", sagt Bünting.

Im Salon des Kreuzers dampfen Kaffeebecher auf dem Tisch. Messing glänzt. Doppelte Sitzgurte an der roten Leder-Eckbank lassen ahnen, dass es hier nicht immer so gemütlich ist. Wenn das Schiff durch die Wellen knallt, muss man sich anschnallen wie in einem Raumschiff. Bünting lässt sich schwer auf der Bank nieder, seine drei Männer lehnen mit ihren Bechern in der Hand an der Wand, Steuermann Hanno Renner, 37 Jahre alt, drahtig, aus Lübeck und wie Bünting Inhaber eines Kapitänspatents für große Fahrt; Maschinist Gerhard Dreeßen, 57, den Bünting nur "Danske" nennt, weil der Dithmarscher aus Ostfriesensicht so nahe an Dänemark wohnt. Und Torsten Brumshagen, 47, ein stämmiger Techniker und Sanitäter aus Mecklenburg-Vorpommern. Alle tragen rote Overalls. Fest angestellte Rettungsleute der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. DGzRS, so die Abkürzung.

Bünting sagt nur "die "Gesellschaft". 1978 hat er dort angefangen. Seit vielen Jahren ist er Kapitän auf dem Kreuzer. Vormann, wie es bei der Gesellschaft heißt und noch an die Jahre nach der Gründung 1865 erinnert. Damals fuhren die Retter, meist Fischer, in offenen Ruderbooten raus, um Schiffbrüchigen zu helfen. Nur der Vormann saß mit den Augen voraus hinten am Ruder, um den Kurs zu halten, während die Mannschaft mit dem Rücken zum Ziel die schweren Boote durch die Brandung ruderte.

Aus den Bordlautsprechern rauscht es, knarzige Stimmen sind im Funk zu hören. Ein Schiff fordert einen Lotsen an, die Revierzentrale informiert über Baggerarbeiten im Fluss. Ein monotoner Geräuschteppich, der auf dem Kreuzer auch nachts angeschaltet bleibt. Manchmal jedoch ändert sich die Tonlage der Funkstimmen. Furcht, Unsicherheit, Aufregung schwingt dann mit. Feine Stimmensignale, die die Seenotretter auch im schläfrigen Unterbewusstsein herausfiltern, wenn sie in der Koje liegen. "Man hört sofort, wenn da etwas nicht stimmt, und ist wach", sagt Steuermann Renner. Und viel kann da draußen passieren: 75 Prozent der Einsätze gilt Wassersportlern. Mit ihren schweren Wasserkanonen können Seenotkreuzer Brände auf Seeschiffen löschen, stehen bei Havarien und Lecks mit schweren Pumpen bereit oder ziehen Yachten, Kutter und kleinere Frachter mit ihren kräftigen Schiffen von den tückischen Sandbänken. Knapp 2000 Einsätze registrierte die DGzRS bis Oktober 2009 insgesamt an der Küste, 790 Menschen wurden aus akuten Notfällen gerettet. Doch wie in den Anfangsjahren ist es immer noch eine private Gesellschaft, ein Verein, der sich ausschließlich durch Spenden, Sammlungen und Förderbeiträge finanziert. "Diese System ist einzigartig in der Welt", sagt DGzRS-Sprecher Andreas Lubkowitz, der heute die Cuxhavener Seenotretter besucht. Während in anderen Ländern die Seenotrettung durch staatliche Küstenwachen und freiwillige Helfer organisiert ist, hat in Deutschland diese Aufgabe die DGzRS übernommen. Vertraglich geregelt mit dem Verkehrsministerium unterhält der Verein dazu an der deutschen Nord- und Ostseeküste ein dichtes Netz von 21 Kreuzern und 41 Booten. 186 Festangestellte und 800 Ehrenamtliche stützen das System, das völlig ohne staatliches Geld auskommt. Ungewöhnlich in einem Wohlfahrtsstaat, wo die meisten sozialen Einrichtungen durch Steuergelder finanziert werden.

Doch auch für deutsche Seeretter ist es nicht einfacher geworden: Zuwendungen aus Nachlässen sind im letzten Jahr deutlich zurückgegangen, und die Spenden lagen bis Oktober 2009 noch gut sechs Prozent unter dem Vorjahresniveau. Auch die legendären Sammel-Schiffchen, wie sie in Norddeutschland oft auf Kneipentresen zu finden sind, werden immer weniger: Rund 25 000 waren es zu guten Zeiten, jetzt sind es noch etwa 18 600 - die aber immer noch rund fünf Prozent zu dem Zuwendungsbudget von gut 18 Millionen Euro pro Jahr beitragen. "Das ist zwar noch nicht existenzbedrohend. Wir beobachten das aber mit Sorge", sagt DGzRS-Sprecher Lubkowitz. Der Spendenmarkt sei eben enger geworden in Deutschland, vermutet er.

Im kleinen Salon herrscht jetzt bedrücktes Schweigen. Die Männer nippen am heißen Kaffee. "Nun geht es aber los." Bünting federt hoch aus seinem Sitz. Für heute hat er eine Kontrollfahrt angesetzt, 70 bis 80 Einsätze fährt der 1985 in Dienst gestellte Kreuzer im Jahr. In den Tagen dazwischen warten die Männer das Schiff, wohnen und leben dort in ständiger Bereitschaft im 14-Tage-Rhythmus. Dienst, Freizeit, Dienst. Wer von Bord zum Einkaufen geht, muss ein Funkgerät mitnehmen. Koch ist jeder einmal. Heute stellte Steuermann Renner einen großen Topf mit Suppe und Würstchen auf den Herd, sichert alles mit dicken Tauen. "Wer an dem Essen meckert, ist morgen dran", sagt er. Bünting drängt zum Aufbruch. Man muss das Handling üben, immer wieder, sagt er. "Nichts ist gefährlicher als zu viel Gemütlichkeit." Daher soll die Crew heute noch Pumpen, Motoren und das kleine Tochterboot testen.

Und eigentlich auch sich selbst.

Wenig später nimmt Vormann Bünting Kurs auf die Mündung. Im grauen Wasser vibrieren die Fahrwassertonnen in der Ebb-Strömung und liegen fast flach auf dem Wasser. "Ich kenne keine Mündung mit stärkerer Strömung", sagt Bünting. Respekt klingt in seiner Stimme. Strömung, Wind und Wellen können im Zusammenspiel mit den Sandbänken zum Inferno für Schiffe werden. Im Mahlsand des Vogelsandes werden sie regelrecht eingegraben, wenn sie nach einer Grundberührung nicht sofort heruntergezogen werden. "Manche Kapitäne ahnen gar nicht, dass sie dort in eine schlimme Situation geraten können." Vor allem wenn die Strömung gegen den Wind drückt, richtet sich die See steil auf. Die Wellen laufen dann auf die wenige Meter unter der Wasseroberfläche liegenden Sandbänke zu, ihre tief nach unten wirkende Massenbewegung prallt regelrecht auf das plötzliche Hindernis. Das Wasser türmt sich auf. Besonders hoch dort, wo der Wind ungeschützt durchs Land auf die nordöstliche Elbmündung trifft. Bünting hat das mal ausprobiert, ist gegen die Brecher dort gedampft. Es schleuderte ihn in die Ecke des offenen Steuerstandes, wenige Zentimeter und er wäre von der Wucht des Seeschlags über Bord geworfen worden. Danach ließ er auf den Sitzen auch feste, breite Gurte anbauen. "Das Schiff ist stärker als der Mensch", sagt er.

Aber auch die Nordergründe westlich des Vogelsandes können tückisch sein. 2006 verschwand dort plötzlich der Fischkutter "Hoheweg" im Herbststurm von den Radarschirmen. Mit vier Leuten an Bord. Bünting und seine Leute konnten eine Notboje orten und aufnehmen, suchten zwischen Grundseen und Brechern stundenlang weiter.

Die Retter fanden Fischkisten, Diesellachen. Dann entdeckten sie die Rettungsinsel. Sie war leer. "Da wussten wir, dass die Leute tot sind."

Momente, die niedergeschlagen machen, weil nicht mehr zu helfen war. Ähnlich wie in der Orkannacht vom 1. auf 2. Januar 1995. Ein holländischer Seenotretter war bei einem Einsatz nahe Borkum über Bord gespült worden. Der Rettungskreuzer "Alfried Krupp", das Schwesterschiff der "Herman Helms", lief sofort von der Insel aus. Vormann Bernhard Gruben und sein Maschinist Theo Fischer suchten in dem tosenden Meer vom oberen Steuerstand nach ihrem Kollegen. Plötzlich muss eine gewaltige Sturzsee von hinten über das Schiff hergefallen sein. Die stabile Aluminiumkonstruktion überschlug sich, der Kreuzer drehte sich vermutlich einmal um sich selbst wie bei einer Eskimorolle und spülte die beiden Männer, die eigentlich andere retten wollten, von Bord. Hinterher waren Teile der Aufbauten verdreht und verbogen als seien sie aus Gummi. Der Kreuzer aber schwamm wieder oben.

"Unsere Schiffe sind für solche Situationen gebaut, wir nicht", sagt Bünting, der damals nach Meldung gleich rausgefahren ist, um seine Kollegen zu suchen. Ein mulmiges Gefühl? Nein, sagt er. Keine Bedenken. "Unser Kahn ist gut." Und eine solche Welle, wie sie das Schwesterschiff getroffen hatte, entsteht einfach mal. 50 Meter daneben kann es schon viel ruhiger sein, sagt Bünting. Der niederländische Kollege konnte damals von einem Hubschrauber gerettet werden, die beiden deutschen DGzRS-Männer ertranken, ihre Leichen wurden später gefunden. Zwei Rettungskreuzer tragen heute ihre Namen.

Regen setzt ein. Im Fahrtwind auf dem offenen Steuerstand pikst er wie kleine Nadeln in die Augen. Vormann Bünting blickt mit verkniffenem Gesicht nach vorn. Er könnte auch eine Treppe runtergehen, ins warme Steuerhaus, und den Rettungskreuzer von dort fahren. "Nein, nur hier oben kann man richtig sehen, und ich muss alles sehen", sagt er. Weit vor dem Kreuzer zieht ein schlanker, weißer Frachter vorbei Richtung Atlantik. Vermutlich ein Kühlschiff, vermutlich auf dem Weg nach Südamerika. Weg von der Winter-Nordsee, wo jetzt der Rettungskreuzer "Herman Helms" seine treuen Bahnen durchs Wasser zieht. Wie ein Hirtenhund, der aufpasst, dass kein Schaf der Herde verloren geht.

Ein einsamer rot-weißer Fleck im weiten Grau.