Martin Schröder war eines von 44.000 Kriegskindern, die 1946 und 1956 mit den sogenannten Kinderzügen außer Landes gebracht worden waren.

Hamburg. Aus einem zerstörten Land, in dem die Häuser ausgebombt und der Bahnhof von Altona fast in Trümmern lag, fuhr er am 5. Juli 1946 fort. In einer heilen Welt, in der es nach Schokolade und Ovomaltine duftete, kam der damals vierjährige Martin Schröder nach zwei Tagen und zwei Nächten an. Gemeinsam mit 450 anderen Kindern aus Hamburg. "Ich erinnere mich noch an die sorgsam in Seidenpapier eingewickelte Apfelsine, die ich im Zug geschenkt bekommen habe. Die erste Apfelsine meines Lebens, ihren Duft habe ich noch heute in der Nase", sagt der Volksdorfer.

Martin Schröder war eines von insgesamt 44.000 Kriegskindern aus Deutschland, die das Schweizerische Rote Kreuz zwischen 1946 und 1956 mit den sogenannten Kinderzügen außer Landes gebracht hat. Für jeweils drei Monate lebten die Vier- bis Zehnjährigen in der Schweiz, wurden aufgepäppelt in den Alpen. "Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit wird mir immer wieder bewusst, wie viel Gutes mir damals geschehen ist", sagt der 67-Jährige mit kräftiger Stimme, während er bei einer Tasse Kaffee in seinem Wohnzimmer sitzt.

Im Gedächtnis der Bundesrepublik seien diese Kinderzüge nicht verankert gewesen, sagt er. Bis der Münsteraner Historiker Bernd Haunfelder vor zwei Jahren ein Buch veröffentlichte und das Abendblatt darüber berichtete. Mehr als 120 Leser meldeten sich damals, sie wollten erzählen. Vom Krieg in Hamburg und dem Frieden in der Schweiz. Von Hölle und Paradies. "Ich selbst weiß nicht mehr so viel", sagt Martin Schröder fast ein bisschen entschuldigend. "Ich war doch noch so klein."

Aufgewachsen mit zwei Geschwistern in Niendorf, galt der kleine Martin als "lebhaftes Kind aus bescheidenen Verhältnissen, das gut schläft". So steht es jedenfalls auf der mittlerweile verblichenen Karteikarte, die das Schweizerische Rote Kreuz kurz vor der Abfahrt über Martin angelegt hatte. "Ich muss allerdings ziemlich unterernährt gewesen sein, sonst hätte meine Mutter mich wohl niemals für dieses Erholungsprogramm angemeldet, mich nicht auf Zeit weggegeben." An den Abschied in Hamburg kann er sich nicht mehr erinnern, auch nicht an die einwöchige Quarantäne in Basel. Dafür aber an die Ankunft in Winterthur, an die saftig grünen Wissen. Ein Pappschild habe er um den Hals getragen, darauf in leserlicher Handschrift: sein Name. "Sofort stürmte eine junge, fröhliche Frau auf mich zu."

Diese Frau war die damals 19-jährige Lydia Wirth, eines von acht Kindern der Bauernfamilie Wirth aus dem 2000-Einwohner-Dorf Unterstammheim. Auf dem Ulmerhof, dem Bauernhof der Familie, habe er sich gleich wohlgefühlt, sagt Martin Schröder. "Es war wie eine zweite Familie - es war trotz Heimweh nach Hamburg eine glückliche Zeit." Umsorgt von den Gasteltern Anna und Jakob Wirth. "Die haben mich aus einem tiefchristlichen Glauben heraus aufgenommen, ohne jeglichen Vorteil für sich. In heutiger Zeit ist das doch fast undenkbar." Nur einen Satz habe er zu dem Thema mal am Küchentisch aufgeschnappt: "Wenn es für acht Kinder reicht, dann reicht es auch für ein neuntes."

Die große Linde und den braunen Hund, die habe er heute noch vor Augen, sagt Martin Schröder und nippt an seinem Kaffee. "Und das Holzmännchen in der Abendlaube, dessen Augen aus roten Lämpchen so bedrohlich funkelten." Als Vierjähriger habe er sich vor dieser Figur geradezu geängstigt, sich nicht allein in die Laube getraut.

Das war vor ein paar Wochen natürlich anders. Gemeinsam mit Ehefrau Brigitte (65) hat Martin Schröder gerade seine Gastfamilie von damals noch einmal besucht. 1976 war er zum ersten Mal wieder dort gewesen, danach in unregelmäßigen Abständen noch insgesamt fünfmal. "Es ist immer so, als wenn man nach Hause kommt", sagt Martin Schröder. Wenn er im Auto sitze und auf den Hof zusteuere, sei er zwar sehr aufgeregt. Doch die Nervosität verfliege, sobald das erste seiner Gastgeschwister herzlich rufe: "Guckt, Leute, der Martin ist wieder da!"

Mit allen acht Gastgeschwistern, von denen eines mittlerweile in den USA lebt, hat er Wiedersehen gefeiert. Auch mit Lydia, die mittlerweile 82 Jahre alt ist. "Es ist wie ein Wunder, dass wir uns in all den Jahren nicht aus den Augen verloren haben", sagt Martin Schröder.

Natürlich habe es Zeiten gegeben, in denen man kaum Kontakt gehabt habe. Als Martin Schröder beschäftigt war, mit den eigenen drei Kindern, die heute längst erwachsen und selbst Eltern sind - und mit seinem Beruf, als Vorstand der Iduna-Versicherung. "Irgendwann hatte ich aber das Bedürfnis, mich zu melden."

Schließlich spricht er perfekt "Schwizerdütsch". "Das war 1946, als ich dann im Oktober zurück nach Hamburg kam, auffallend. Meine Spielkameraden konnten mich überhaupt nicht mehr verstehen, weil ich für ihre Ohren seltsam sprach", sagt Martin Schröder und lacht.

Spätestens Heiligabend wird er wieder mit seiner Schweizer Familie telefonieren. Ihr ein frohes Fest wünschen. Und ihr danken. "Für Kindheitserinnerungen, die ich 1946 in Deutschland nicht hätte erleben können."