Die Steinmetze, Gärtnereien, Bestattungsinstitute, aber auch der Friedhof in Ohlsdorf selbst stellen sich um.

Hamburg. Die Flammen von zwei hohen Kerzen flackern hektisch auf, als die Glastür zu dem Pavillonbau an der Fuhlsbüttler Straße geöffnet wird und der Novemberwind hereinfegt. Vasen ohne Blumen stehen auf der langen Schaufensterwand, an der Wand hängen zwei historische Stiche: Schwarz gekleidete Männer sind darauf zu sehen. Sie tragen einen Sarg. In ihren Händen halten sie etwas Gelbes: "Das sind Zitronen, gegen den Leichengeruch", sagt Holger Hämmerer. "Heute haben wir ein Spray, wenn es mal nötig ist." Der Bestattungsunternehmer lacht kurz auf. Ein kräftiger, sportlicher Mann, Mitte 60, braun gebrannt. Er legt seinen schwarzen Mantel ab und bittet zu einer Gruppe Ledersessel. Auf dem Tisch ein Prospekt über "Bestattungs-Vorsorge" - und das "Stern"-Jahrbuch von 1982. "Hier der schöne Micha vom Kiez, der sich umgebracht hatte - den hab' ich auch gemacht", sagt er und zeigt Fotos aus dem Buch mit einem Sarg im riesigem Blumenmeer und großen amerikanischen Autos. "Da gingen im Café mal eben in einer Stunde locker 20 000 Mark nur für Champagner weg." Und heute? Hämmerer beugt sich nach vorne. Gut, große, opulente Beerdigungen gibt es noch immer. Doch der Trend, sagt er, "der geht eindeutig zum Discount".

Hämmerer ist Besitzer eines der größten Bestattungsunternehmen hier am Ohlsdorfer Friedhof. Fünf der rund 170 Hamburger Bestattungsinstitute sind Teil seiner Gruppe, 100 Jahre alte Firmen sind dabei. Aber auch das "Sarg-Depot". Etliche Prominente aus der Hamburger Gesellschaft hat er beerdigt, immer wieder Kiez-Größen. Er zählt Namen auf, "Aber bitte nicht schreiben". Bestattung ist ein dezentes Geschäft. "Du musst die Antennen haben; bei wem ein Scherz angebracht ist, bei wem würdevolle Zurückhaltung - nur zu dicht an sich selbst heranlassen darfst du das Sterben nicht", sagt er. Professionell eben.

1000 Bestattungen im Jahr macht seine Gruppe. Teure Feiern mit Särgen für 8000 und mehr Euro, aber immer häufiger die günstige Variante für 400 Euro. Und immer mehr Aufträge kommen vom Sozialamt für mittelose Verstorbene ohne jegliche Angehörige. Zwangsbeerdigungen heißen solche Fälle. "Vielleicht 50 im Jahr gab es früher davon in Hamburg, heute sind es wohl 1000", sagt Hämmerer. Viel hat sich in der Friedhofskultur eben geändert, seit er sich damit beschäftigt. Ganz in der Nähe vom Ohlsdorfer Friedhof ist er aufgewachsen. In den 50er-Jahren hat er an solchen Totensonntagen wie an diesem Sonntag schon als Kind den Friedhofsbesuchern mit einem Bollerwagen das traditionelle Tannengrün zum Abdecken der Gräber transportiert und sein erstes Geld mit dem Tod verdient. "Klar, dass ich dann keinen anderen Beruf wollte, das erschien mir sicher, denn gestorben wird ja immer."

Doch Tannengrün am Totensonntag, die rituelle Erinnerung an verstorbene Angehörige - so etwas ist heute seltener geworden. Noch vor 15, 20 Jahren standen bis zu 40 fliegende Händler an den Totensonntagen mit Gestecken und Zweigen am Friedhofseingang, heißt es in den Geschäften am Friedhof. "Da war die Hölle los", sagt Heinz-Jochen Vieth von der Friedhofsgärtner-Genossenschaft. Doch heute, so sagt eine Statistik, geht der Durchschnittsdeutsche im statistischen Mittel nur alle zwölf Jahre auf einen Friedhof.

Sind Sterben und Tod tatsächlich ein solches Tabuthema, das man lieber verdrängt?Antworten auf solche Fragen gibt es im Verwaltungsbau des Friedhofs. Im zweiten Stock hat Lutz Rehkopf sein Büro: Aus den Fenstern fällt der Blick des Friedhof-Sprechers auf drei zentrale Achsen der knapp 400 Hektar großen Grünanlage, die als der größte Parkfriedhof der Welt gilt. Seit der Gründung 1877 wurden in Ohlsdorf etwa 1,5 Millionen Menschen beerdigt. 244 000 Grabstellen gibt es dort. Knapp 5000 Menschen werden hier jährlich bestattet. Nach Jahren rückläufiger Zahlen waren es 2008 erstmals wieder etwas mehr als im Vorjahr. Die Kriegslücke und der medizinische Fortschritt seien für den jahrelangen Rückgang die Ursache, sagt Rehkopf. Langsam ändere sich das wieder. "Wir werden zwar älter, aber irgendwann ist es vorbei", sagt er.

Gestorben wird eben immer, doch beerdigt oft anders: 25 Prozent der in Ohlsdorf beigesetzten Menschen werden heute in anonymen Urnengräbern beigesetzt. Kein Name, keine Grab erinnert mehr an sie. Eine stille Wiese des Vergessens ist ihre letzte Ruhestätte. Niemand kümmert sich dort um individuelle Grabpflege, niemand legt am Totensonntag Tannengrün hin. "Es ist oft gar nicht mal das Geld, das fehlt", sagt Rehkopf. "Viele wollen einfach ihren Angehörigen nicht nach ihrem Tod zur Last fallen." Der 46-jährige, schlanke Mann beschäftigt sich oft mit solchen Fragen. Germanistik und Philosophie hat er einmal studiert, leitet heute Führungen durch den grünen Friedhofspark und engagiert sich für ein neues Bild von Friedhof. "Es ist ein ernstes Thema und bleibt ein ernstes Thema - weil der Tod für jeden ein Spiegel seines eigenens begrenzten Lebens ist", sagt er und versucht Erklärungen zu dem Wandel. Großstädte seien heute Singlehochburgen, es gibt mehr Kleinfamilien als Großfamilien. Zu Trauergesellschaften kämen heute nicht mehr 40, 50 Personen, sondern vielleicht zehn. Der Friedhof ein Spiegelbild der Gesellschaft? "Unbedingt", sagt Rehkopf. Auch die auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ließe sich selbst auf dem Friedhof beobachten: So lassen sich wohlhabende Bürger der Stadt wieder für zigtausend Euro prächtige Mausoleen bauen - so wie vor vielen Jahrzehnten zuletzt. Gleichzeitig müssen mehr Menschen sparen bei Beerdigungen und Grabpflege.

Für Michael Ahl ist das ein Problem geworden, Der große schwere Mann mit dem schwarzen Bart und den freundlichen Augen hat in Hildesheim Steinmetz gelernt. Der Liebe wegen ist der 33-Jährige dann nach Hamburg gekommen, hat hier ein Grundstück von der Stadt gepachtet und einen der knapp 20 Steinmetzbetriebe rund um den Friedhof übernommen: Wände, Boden, Hämmer und das alte Radio sind in seiner Werkstatt mit einer zarten Staubschicht überzogen. Meißel hängen an der Wand, auf einem Regal die Knüpfel aus Holz und Gummi. "Tock! Tock!", macht es, wenn er mit diesem traditionellen Gerät ins Gestein hämmert. Häufiger jedoch nimmt er das handliche Pressluftgerät, um schnell Buchstaben in kleine, quadratische Steine zu formen. "Kissen" heißen diese Mini-Grabsteine. "Früher hat man viele größere, teurere Steine genommen", sagt Ahl. Pragmatisch lassen sich Kunden auch alte Grabsteine nacharbeiten. Gerade hat er wieder so einen Auftrag: Abschleifen, mehr Namen drauf - alles günstiger als neu. Diese Entwicklung und die vielen anonymen Beerdigungen machen seiner Zunft zu schaffen: "Etliche Betriebe hier haben schon aufgegeben", sagt er.

Doch wie mag es zukünftig auf den deutschen Friedhöfen aussehen? Der Hamburger Volkskundler Norbert Fischer glaubt jedenfalls, dass sich die deutsche Bestattungskultur noch viel weiter individualisieren wird. Anonyme Gräber, aber Gedächtnis-Plattformen im Internet, einfache Rasenflächen und Bestattungen in Wäldern - das werde zunehmend zu beobachten sein.

Tatsächlich gibt es seit 2001 in Deutschland auch privatwirtschaftliche Friedwälder rund um die Metropolen, wo Urnen beigesetzt werden können. 80 solcher Friedwälder sind es mittlerweile bundesweit. Eine starke Konkurrenz für städtische Friedhöfe wie Ohlsdorf. Dort wird daher auf zunehmende Individualisierung und die neuen Mitbewerber reagiert. Baumgräber werden beispielsweise in Ohlsdorf angeboten. Oder ein Kolumbarium, wo wie in Südeuropa Urnen oberirdisch beigesetzt werden. Themengrabfelder gibt es mit durchgängigen Grab-Motiven. Etwa Schmetterlingen als Symbol der Wiederauferstehung.

Für mehr Selbstvorsorge in Sachen Beerdigung und Grabpflege plädiert indes die Genossenschaft der Friedhofsgärtner. Nicht weit vom Haupteingang des Ohlsdorfer Friedhof hat der Zusammenschluss dazu vor einem Jahr das "Friedhofsinformationszentrum" eröffnet. Wenig erinnert hier an die schwer gediegenen Räumlichkeiten mancher Bestattungsunternehmen. Hellgrüne Stühle, Milchglastüren und eine frische gelblich Wandfarbe im Beratungsraum lassen eher den Eindruck einer modernen Sparkasse aufkommen. Mit neuen Marketingstrategien und einer zielgruppengerechten TV-Werbung im ZDF versuchen sich die deutschen Friedhofsgärtner gegen die Trends von Sparsamkeit und Anonymität zu stemmen. Das Slogan dazu flimmert auch auf einem großen Bildschirm im Ohlsdorfer Beratungszentrum: "Es lebe der Friedhof", heißt der und klingt doch ebenso überraschend wie auch tröstlich. Vielleicht sollte man doch einmal wieder hingehen auf einen Friedhof?