Die Familie hat gegen Krankenhaus und Ärzte geklagt - und verloren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ihre letzte Hoffnung.

Hamburg. Früher hatten sie einmal einen Traum. Von einer gesunden Tochter, einer Tochter, bei der sie glücklich die ersten Worte miterleben würden und die ersten noch wackeligen Schritte. Eine Tochter, die irgendwann in den Kindergarten kommt und später in die Schule. Ganz normal eben, den Traum, den alle werdenden Eltern träumen. Ein Traum vom Glück.

Heute haben sie wieder einen Traum. Bescheidener ist er, sicherlich. Aber trotzdem ihr größtes Ziel: Dass sie vor Gericht recht bekommen. Recht für ihre Tochter Deike, die ein Wunschkind ist - und schwerstbehindert. Sie ist ein Pflegefall, rund um die Uhr, ihr Leben lang. Schuld daran ist nach Überzeugung des Ehepaars Tilman und Anja Holweg ein Versagen von Ärzten. Sie gehen von einem groben Behandlungsfehler bei der Geburt aus. Deshalb sind Tilman und Anja Holweg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gezogen, wo sie um ihr Recht kämpfen. Für Deike. Und für ihre Zukunft.

Deike ist der liebe Schatz. Der kleine Engel. Die Zuckerschnecke. Ein Kind, das geliebt wird von seinen Eltern und seinem Bruder, über alle Maßen. Ein Mädchen, das ihnen Freude macht. Aber auch sehr viel Kummer und Sorgen. Denn Deikes schwerste Behinderungen und die damit verbundene Pflege verlangen ihrer Familie alles ab, Verzicht, Einschränkungen und sehr viel Mühe. Und dazu kommt immer wieder die Angst, wie es weitergeht mit dem Leben der Siebenjährigen. Ob es überhaupt immer weitergeht.

"Es gab schon Momente", sagt Deikes Mutter Anja Holweg mit belegter Stimme, "in denen sie auf der Intensivstation lag und wir fürchteten, wir kriegen sie nicht wieder." Trotz aller Freude über Deike ist jeder Tag für die Familie eine Extremsituation. Da sind Momente, bei denen es ihnen die Tränen in die Augen treibt, in denen es ihr Herz zerreißt. So wie damals, als Deikes Bruder, zu jener Zeit noch ein Kindergartenkind, plötzlich fragte: "Mama, Papa, können wir nicht noch ein gesundes Geschwisterchen bekommen?"

Ein gesundes Geschwisterchen. Und nicht ein krankes. Schuld an der schweren Behinderung der Tochter ist nach Überzeugung von Anja und Tilman Holweg eine Unterversorgung mit Sauerstoff bei der Geburt wegen eines nicht erkannten Geburtsstillstandes. Ihre Klage richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland. Denn vor den Zivilgerichten in Deutschland sind sie mit ihren früheren Klagen gegen Klinik und Ärzte endgültig gescheitert, eine Revision zum Bundesgerichtshof wurde nicht zugelassen.

Und genau dagegen kämpfen sie jetzt: Gegen den Paragrafen 522 der Zivilprozessordnung, auf dessen Grundlage das Hanseatische Oberlandesgericht ihnen seinerzeit die Möglichkeit einer Revision versagt hat. Statistisch gesehen sind die Chancen, in Straßburg zu gewinnen, gering. 2500 Verfahren allein aus Deutschland waren 2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig, in nur sieben Fällen kam es im gleichen Zeitraum zu Verurteilungen. "Doch das schreckt uns nicht ab", sagt Tilman Holweg. "Wir malen uns gute Chancen aus." Insbesondere, weil sie jetzt einen Teilerfolg erzielt haben: Die neue Koalition aus CDU/CSU und FDP ist sich einig, dass die "Regelung des Paragrafen 522 einer Korrektur bedarf", heißt es bei den Parteien. Für die Familie Holweg geht es um Genugtuung, aber auch um Schmerzensgeld, um Schadenersatz und Folgekosten. "Wir möchten, dass Deike ihr Leben lang die beste Vorsorgung bekommt, die es gibt."

Die Siebenjährige kann nicht selbstständig sitzen, nachts wird sie künstlich beatmet. Sie kann nicht allein essen, nicht sprechen. "Auch wenn sie nicht reden kann: Sie hat ihre Gefühle, ihren Willen, möchte Freude machen. Sie ist ein kleiner süßer Mensch", erzählt ihr Vater Tilman Holweg mit Wärme und Liebe in der Stimme. "Sie freut sich, wenn man nach Hause kommt. Sie brabbelt und macht Bewegungen. Und sie kann sich mitteilen", erklärt der 43-Jährige. "Wenn sie die Hand hochhebt, heißt das 'ja'. Wenn sie den Kopf zur Seite dreht 'nein'." Das kann Deike, an guten Tagen. An schlechten gelingt ihr das nicht. "Manchmal geht etwas, am nächsten Tag wieder nicht", sagt ihre Mutter. "Es war ein langer Lernprozess, dass wir uns über die guten Momente wirklich freuen, weil wir nicht wissen, ob und wann dieser Augenblick wiederkommt."

Dabei hatten die Eltern seinerzeit viel unternommen, um für ihr noch ungeborenes Kind den besten Start ins Leben zu ermöglichen. Sie hatten sich für eine Geburt in einer renommierten Hamburger Klinik entschieden. Sie schlossen mit dem damaligen Chefarzt des Krankenhauses einen Privatbehandlungs-Vertrag ab. Doch als Deike am 19. August 2001, einem Sonntag, auf die Welt kam, war der Chefarzt nicht im Dienst "und auch kein Facharzt", monieren die Eltern. Stattdessen habe eine Ärztin im Praktikum die Geburt begleitet und einen Geburtsstillstand und die damit einhergehende Sauerstoff-Unterversorgung nicht erkannt. "Wenn ein Facharzt da gewesen wäre, wären diese Fehler nicht passiert", meinen Anja und Tilman Holweg. "Die Ärztin im Praktikum war offenbar nicht reif für eine komplizierte Geburt. Das ist so, als wenn Flugzeuge von Praktikanten geflogen würden."

Doch noch lange Zeit nach der Geburt hatten die Eltern keine Ahnung, dass Deike krank ist und wie schlimm es um sie steht. "Wir sind ganz normal aus dem Krankenhaus entlassen worden", erzählt Anja Holweg. Sie selbst habe sich in den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt Sorgen gemacht, weil der Säugling schlecht trank und schlapp wirkte. "Aber man ist noch auf einem anderen Stern, wenn man frisch entbunden hat", sagt die 42-Jährige. "Als Deike sieben Wochen alt war, sind wir mit ihr ins Krankenhaus gegangen." Ein EEG ergab, dass Deike "praktisch permanent in einem epileptischen Zustand ist", erzählt der Vater. Als Deike etwa sechs Monate alt war, sagte ein Arzt: "Sie haben ein mehrfach schwerst behindertes Kind. Das wird Ihnen alles abverlangen." In dem Moment wurde für die Holwegs klar: Sie werden mit Deikes Behinderung leben müssen. "Das war für uns fast befreiend. Endlich wussten wir, was los war. Und damit war für uns klar: Deike soll so glücklich wie möglich sein, und das bei ihren Eltern und ihrem Bruder."

Das kostet Kraft. Und Zeit. Und Opfer. Der Alltag ist auf die Pflege von Deike ausgerichtet, Verreisen war über Jahre unmöglich, für Hobbys blieb keine Zeit. "Und auch unser Sohn hat lange zurückstecken müssen, weil uns die Pflege von Deike sehr beansprucht hat. Was dieser kleine Kerl alles wegstecken musste, war fast das Schlimmste", sagt die Mutter. Seit nunmehr 18 Monaten haben sie Entlastung bekommen: Zwölf Stunden am Tag unterstützt ein Pflegedienst die Familie, bezahlt von ihrer Krankenkasse. "Dafür mussten wir lange kämpfen", sagt Tilman Holweg. "Aber es hat sich gelohnt."

So wie Deikes Eltern auch davon überzeugt sind, dass es sich lohnt, mit allen Mitteln für ihr Recht zu kämpfen. Zunächst reichten sie Klage ein gegen den Chefarzt, die Ärztin im Praktikum, die Klinik. Vor dem Hamburger Landgericht unterlagen sie, eine Berufung vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht scheiterte ebenfalls. "Man hielt unseren privaten Gutachter, der einen vermeidbaren Behandlungsfehler bescheinigte, nicht für qualifiziert genug", kritisiert Tilman Holweg. Eine Revision zum Bundesgerichtshof wurde nicht zugelassen.

"Der Klageweg in Deutschland ist erschöpft", erklärt Holweg. "Nach der Menschenrechtskonvention hat aber jeder europäische Bürger ein Recht auf ein faires Verfahren - auch Deike. Gegen dieses Recht hat Deutschland zum Beispiel dadurch verstoßen, dass der durch unseren Gutachter festgestellte Behandlungsfehler ignoriert wurde."

Ob sie in Straßburg Erfolg haben werden, ist nicht abzusehen. Aber die Eltern sind sich einig: "Unser Leben ist da, wir versuchen, fröhliche Menschen zu sein. Man kann auch lachen."