Er verurteilte den Säuremörder ebenso wie Jessicas Eltern und sagt: “Jeder Mensch trägt das Böse in sich.“

Er hat skrupellose Mafiakiller erlebt und Mörder, die im Gefängnis erneut gemordet haben. Er hat über einen Mann gerichtet, der aus Habgier und sadomasochistischen Neigungen zwei Frauen getötet und ihre Leichen in Säure aufgelöst hat. Und er hat die Eltern der verhungerten Jessica aus Jenfeld zu lebenslanger Haft verurteilt.

Gerhard Schaberg, seit 35 Jahren Strafrichter in Hamburg und seit 17 Jahren Vorsitzender des Schwurgerichts, hat die Abgründe der Psyche erlebt. Das, was viele das "Böse im Menschen" nennen. Aber auch Täter, die eher ungewollt und zufällig - aus einem menschlichen Drama heraus - jemanden getötet haben. Schicksale, bei denen "im Richter das Mitleid kämpft mit der Pflicht, eine gerechte Strafe zu verhängen", wie der 64-jährige Jurist sagt.

Jetzt geht Schaberg zum 31. Oktober in Pension. "Siegmund Freud hat gesagt: Es gibt in der Psyche eines jeden Menschen starke destruktive Anteile. Das habe ich als Richter in einer Vielzahl von Fällen bestätigt gefunden", sagt Schaberg, der allein als Schwurgerichtsvorsitzender rund 400 Urteile gefällt hat. Eine Erkenntnis, die er dabei gewonnen hat: "Die Schwelle, die überschritten werden muss, um ein Tötungsdelikt zu begehen, ist häufig von der Situation abhängig und oft von Zufällen geprägt, die über Leben und Tod entscheiden."

Wie bei dem zufälligen Aufeinandertreffen zweier völlig unbekannter Menschen an einer Musikbox, zwischen denen eine lapidare Auseinandersetzung über die Auswahl der Titel in einer lebensbedrohlichen Messerstecherei gipfelte. Und wie bei vielen anderen Zusammentreffen, das einer der Streithähne nicht überlebte. Aus nichtigem Anlass. Ein sinnloser Tod.

"Es gibt aber auch Täter, die eher professionell Tötungsdelikte begehen", erzählt der Schwurgerichtsvorsitzende, "zum Beispiel als Mitglieder der Mafia, die ihre eigenen Vorstellungen anstelle von Ethik und Moral setzen. Diese Menschen haben keine oder nur eine sehr geringe Hemmschwelle, andere zu töten oder zu verletzen. Der Ursprung der Tat ist bei beiden, bei dem durch Zufall geprägten Täter wie bei dem skrupellosen Killer, derselbe: Unabhängig von allen Tatmotiven brechen in der Persönlichkeit vorhandene destruktive Triebe durch. Sie werden in der Regel durch das Gewissen im Zaum gehalten. Aber wenn diese Schranke fällt, kommt das destruktive Verhalten, das 'Böse', ungehemmt hervor."

Was manche Menschen imstande sind, anderen anzutun, hat der Schwurgerichtsvorsitzende auch bei einem sogenannten Ehrenmord erlebt, über den seine Kammer verhandelte.

In diesem Fall war eine Frau aus Afghanistan, die zwangsverheiratet worden war, aber einen anderen Mann liebte, von ihrem Ehemann quer durch Europa verfolgt worden. Schließlich erstach er sie vor den Augen der gemeinsamen Kinder mit einer Schere. "Hier ging es insbesondere darum, die Bedeutung kultureller Hintergründe aufzuklären. Der Täter hatte ausgesagt, die Frau habe ihn und seine Familie entehrt", sagt Schaberg. "Alle Richter waren vom Schicksal der Frau berührt. Wir haben deutlich betont, dass das kulturelle Umfeld keinerlei Berechtigung ist, deutsches Recht zu missachten. Der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt."

So wie viele andere Verbrecher, über die die Schwurgerichtskammer zu urteilen hatte. Doch es gab auch andere. Schicksale und Verbrechen, die sich zum Teil durch eine besondere Tragik auszeichnen. Wie der Fall eines Mannes, dessen unheilbar kranke Frau mehrfach den Wunsch geäußert hatte zu sterben. Als sie eines Nachts aus dem Bett fällt, erstickt er sie aus einem spontanen Entschluss heraus mit einem Kissen. "Der Angeklagte war über 70", erinnert sich Schaberg. "Wie soll man ihn bestrafen? Er hat letztlich eine zweijährige Bewährungsstrafe bekommen." Es gebe immer wieder Verbrechen, so die Erfahrung des Richters, "die Ergebnis sind eines jahrelangen Dramas, von dem man als Strafrichter in der Verhandlung nur einen Zipfel zu fassen bekommt".

Wie auch von den Folgen für jene Opfer, die knapp überlebt haben. Oft für immer gezeichnet, gelähmt, ihre Seelen voller Narben, ihr Leben in Trümmern. Da war etwa der junge Mann, der nach einer Schießerei querschnittsgelähmt war und den Schabergs Kammer in der Klinik als Zeugen vernahm. "Der Mann kämpfte mit den Tränen", erzählt der Richter. "Sein gesamtes Leben war zusammengebrochen. Das war für alle Beteiligten eine besonders belastende Situation. Was mich jedoch immer geschützt hat, ist die Professionalität, die Taten nicht zu dicht an die eigene Person heranzulassen."

So war es auch bei dem grauenhaften Tod der siebenjährigen Jessica, die von ihren Eltern jahrelang in einem dunklen Zimmer gefangen gehalten und vernachlässigt worden war und schließlich verhungerte. "Dieser Fall war besonders grausam in der Tatausführung, extrem außergewöhnlich in der Persönlichkeit der Eltern und ihrer Menschenverachtung und in seiner Monstrosität", sagt Schaberg. Doch gerade dies habe es ihm ermöglicht, leichter Abstand zu halten. "Für mich ist es so", bekennt Schaberg: "Je spektakulärer ein Fall ist, je unwirklicher, desto leichter gelingt es mir, professionell Distanz zu halten. Und je eher eine Tat in meinem Umfeld passieren könnte, desto durchlässiger sind die Schranken der Abwehr."

Trotz aller Verbrechen, über die er zu richten hatte, glaube er "an das Gute im Menschen als Anteil seiner Persönlichkeit", betont Schaberg. "Ich glaube auch weiterhin, das jeder Verurteilte, auch der extremste Täter, jedenfalls die Chance hat, seine destruktiven Anteile, also das 'Böse', in sich zu bewältigen. Jedoch wird es bei einigen, die auch meist psychisch krank sind, nicht gelingen. Es ist dann Aufgabe der Gerichte, die Gesellschaft vor diesen Menschen dauerhaft zu schützen."

In jedem Fall sei es entscheidend, das Maß der persönlichen Schuld des Täters festzustellen. "Dafür ist die Persönlichkeit von Bedeutung." Kein Richter könne jedoch von sich behaupten, einem Fall "100-prozentig gerecht zu werden. Weil wir keine Halbgötter in Schwarz sind. Wir versuchen aber immer, uns mit dem Urteil der Gerechtigkeit so weit als möglich zu nähern." Dazu gehöre auch, einen nicht 100-prozentig überführten Angeklagten freizusprechen.

"Es ist besser", betont der Strafrichter, "einen wahrscheinlich Schuldigen freizusprechen als einen Unschuldigen zu Unrecht zu verurteilen."