An Hamburgs Michel steht die Uhr niemals still. Ein Pastor, ein Küster und eine Kirchen-Mitarbeiterin sprechen über das Wesen der Zeit.

Hamburg. An Hamburgs Michel steht die Uhr niemals still. Zum Ende der Sommerzeit sprechen ein Pastor, ein Küster und eine langjährige Kirchen-Mitarbeiterin über das Wesen der Zeit im Angesicht der Ewigkeit. Der Michel schaut einen an, wenn man ihm näher kommt, und ab und an spricht er. Die St.-Michaelis-Kirche, wie Hamburgs Wahrzeichen offiziell heißt, begrüßt mit ihrem Turm seit zwei Jahrhunderten die in den Hafen einfahrenden Schiffe. Der Michel ist der prominenteste Wächter über die Zeit in dieser Stadt, seine Uhr ist Deutschlands größte in einem Turm. Die Spitzen der vier Minutenzeiger beschreiben in jeder Stunde einen Kreis von 24 Meter Umfang. 1768 wurde der Turm eingeweiht und 1906, nach dem großen Brand, wieder aufgebaut.

Angeblich hat der Bauherr Ernst Georg Sonnin auf einem besonders großen Ziffernblatt bestanden. Kein Wunder, denkt man sich. Denn damals zeigte nur der Michel, wie spät es ist. Armbanduhren gab es noch nicht, Taschenuhren hatten die wenigsten. Heute leuchtet auf jedem Handy eine Zeitanzeige. Überhaupt ersetzt die moderne Technik die historischen Mechanismen schon lange. Wo früher eine halbe Stunde benötigt wurde, um die Michel-Uhr aufzuziehen, und im Sturm gerne mal ein Zeiger abhob, regelt jetzt der Computer die Zeit. Seit 1964 ist das Original-Uhrwerk nur noch zur Zierde im Michel, ein Anschauungsobjekt für Touristen.

Tobias Jahn, der Küster, ist trotzdem stolz auf das große Uhrwerk mit dem langen, rotbraunen Gestänge, der Antriebswelle, den Winkelwerken und Verteilerstücken. Es steht in einem Glaskasten, den nur Jahn mit seinem Schlüssel öffnen kann. Aber nur manchmal, denn um die Wartung des Uhrwerks, dessen Mechanik immerhin noch den Glockenschlag der vollen und der Viertelstunden antreibt, kümmert sich die Hamburger Firma Iversen & Dimier. Die kommt einmal im Jahr und ölt die Maschine durch. Zur Not wüsste auch Jahn, wo das Ölkännchen steht.

Jahn (48), seit 17 Jahren Küster im Michel, ist das Mädchen für alles. Er ist mittelgroß, seine Schläfen sind grau, die Augen blau, und wenn er mit stechendem Blick erzählt, wie enthusiastisch er seinen Beruf ausübt, glaubt man ihm sofort. Jahn duldet keine Widerrede. "Mein Job ist der tollste und schönste der Welt", sagt er. Morgens die Kirche aufschließen, den Innenraum sauber machen, den Gottesdienst vorbereiten, Liedertafeln auslegen. Das Haus für den Publikumsverkehr öffnen, Fragen beantworten, alle Wege abgehen. Das sind seine Aufgaben, jeden Tag. Der Küster kennt seine Kirche, und er weiß um die Zeitläufte. Die fressen an dem historischen Gebäude. "Ja, der Zahn der Zeit", sagt Jahn, "der nagt auch am Michel. Seit zwei Jahren restaurieren wir den Innenraum." Auch alle Bänke. Jetzt kommt sogar eine Heizung rein. "Damit es jeder immer schön warm hat."

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Dass es 452 Stufen bis zur Aussichtsplattform auf 82 Meter Höhe (der Michel ist 132 Meter hoch) sind, weiß niemand besser als Jahn. Er ist jeden Tag dort oben. Ein erhabenes Gefühl stellt sich nicht mehr für ihn ein, wenn er seinen Blick über die Dächer der Stadt schweifen lässt: "Das ist normal für mich."

Früher hat Jahn mal am Michel gewohnt, dann hat er gemerkt, wenn etwas nicht stimmte. "Es fehlt etwas, wenn es nicht läutet", sagt Jahn. Wenn die Technik streikt, zum Beispiel bei einem Stromausfall. Dann kann selbst der Turmtrompeter nicht helfen, der morgens und abends seine Choräle in alle Himmelsrichtungen bläst. Aber dass die Uhr streikt, kommt selten genug vor. Die Zeit steht nie still in Hamburg. Und wenn an diesem Sonntag die Uhr umgestellt wird, geschieht das auf das Zeitzeichensignal eines Senders, der in Hessen steht.

Niemand muss mehr auf den Turm krabbeln und die Uhr anhalten.

Im "Rosenkavalier", dem Libretto Hugo von Hofmannsthals, ist es die Marschallin, eine 32-jährige Dame der Gesellschaft, die sich wahnsinnig alt vorkommt. "Die Zeit ist ein sonderbar Ding", singt sie deswegen und will sich damit trösten. So wie alle, die das Bonmot zitieren. Der Hauptpastor der Gemeinde St. Michaelis hat sich den Vers gemerkt, vor ein paar Wochen baute er ihn in eine Sonntagspredigt ein. Wobei Alexander Röder am besten der Entschluss gefällt, den die Marschallin fasst: "Ich werd jetzt in die Kirch'n geh'n."

Röder, seit 2005 Hauptpastor im "Michel", ist ein groß gewachsener Mann, 49 Jahre alt und schlohweiß auf dem Kopf. Er sagt: "Die Zeit spielt in den Evangelien eine große Rolle." Nebenan ist seine Denk- und Studierstube, aber heute erläutert er das Verhältnis des Christentums zum Wesen der Zeit im kargen Bibliotheksraum, in dem nur ein länglicher Tisch, ein paar Stühle und die Bücher stehen. Röder füllt die Leere mit Worten, sie tanzen auf dem Hochplateau metaphysischer Vorstellungen. "Jeder Gottesdienst ist die Vergegenwärtigung einer Zeit, die längst vergangen ist", sagt Röder und freut sich. Über den Trick der Religion, die Vergangenheit im Hier und Jetzt zu halten, zum Beispiel wenn der Heiland uns an Weihnachten geboren ist. Kein Imperfekt, keine abgeschlossene Vergangenheit - der Erlöser kommt jeden Tag auf die Welt. Draußen laufen die Arbeiter vorbei, seit vielen Monaten renovieren sie schon. Alles ist im Fluss, Röder ist eben erst aus Rom zurückgekommen. In Hamburg friert er, der Winter ist gefühlt schon da, wo sich der Herbst doch gerade erst anschickt, den Reigen der Jahreszeiten fortzusetzen.

In der Ewigen Stadt hat sich der Geistliche aus Hamburg in dreieinhalb Tagen so viele der Stätten aus längst vergangenen Zeiten angesehen, dass sein Gefühl durcheinandergeriet. Er habe irgendwann gedacht, er sei schon Wochen in Rom, sagt Röder. Die Zeit hat vor allem ein Gesetz: Sie verrinnt unaufhörlich. "Alles hat seine Zeit", behauptet der Prediger Salomon im Alten Testament. Er ist noch nicht widerlegt worden bis jetzt, auch wenn sich Genforscher viel Mühe geben, dies zu tun. Wo die Medizin die Leiden der Sterblichkeit zu lindern sucht, findet ein gläubiger Mann wie Röder Trost im Glauben und Sinn in der Rechtfertigung Gottes, auch hinsichtlich des Leids in der Welt. "Es gibt einen tieferen Grund für alles, was geschieht", sagt Röder und blickt optimistisch. Das wird er zu einer Formulierung seiner Predigt machen, die Zeit drängt, sie treibt ihn an, die sehr diesseitige Hast. Nur in der Ewigkeit gibt es keine Einschränkung von Raum und Zeit, keinen Morgen und keinen Abend. Das nützt dem Pastor jetzt nichts, aber ein paar Minuten hat er noch. In denen kann er von den älteren Menschen in seiner Gemeinde sprechen, die das Gefühl haben, dass die Zeit immer schneller vergeht, ihnen wegrennt. Oder von den Eltern, die ihr jüngeres Kind taufen lassen und kaum mitbekommen haben, wie schnell ihr älteres gereift ist. Sie müssen es irgendwann gehen lassen, das ist der Lauf der Dinge.

Früher hat Röder viele der Philosophen gelesen, die Konkurrenten der christlichen Heilsverkünder. Er weiß, dass er in einer säkularisierten Gesellschaft lebt, der schon lange der Zweifel eingepflanzt ist. Einmal haben die Menschenkinder versucht, das Korsett der Zeit, das sie sich selbst angelegt haben, aufzubrechen. Die russischen Revolutionäre wollten aus der Sieben- eine Zehn-Tage-Woche machen. Und scheiterten kläglich. "Man kann die Konventionen, die aus der Religion entstanden sind, nicht einfach auslöschen", sagt er zufrieden. Dann steht der schicke Hauptpastor in Anzug und Krawatte auf und geht in sein Arbeitszimmer. "Tempus fugit", sagt er noch, und der Michel schlägt die volle Stunde.

Nee, hier am Michel sei das natürlich, wo sie das Schreibseminar besuche, und nicht in der Volkshochschule. Einmal die Woche trifft Heike Schröder sich mit sieben anderen Menschen, die alle gerade ihre Biografie schreiben. Wenn man Frau Schröder anschaut, denkt man unweigerlich: Sie darf das. Frau Schröder ist 69 Jahre alt. Sie trägt eine randlose Brille und ihre Haare sind halblang. Sie hat Altersflecken im Gesicht und auf den Händen. Und sie hat immer nur ein Leben geführt, wo andere mindestens zwei hatten: den Beruf und die Familie. "Die anderen langweilen sich immer, wenn ich aus meiner Biografie vorlese", sagt Frau Schröder.

Ihr eines Leben ist der Michel. Seit 47 Jahren. "Ich habe ja gar nicht so viel erlebt und keine Familie", sagt Frau Schröder. Am 14. Januar 1963 fing sie hier an, als Sekretärin des Hauptpastors. Der hieß zunächst Harms, dann Quest, dann Adolphsen. Als ihre Mutter fünf Jahre krank im Bett lag, im Seefahreraltenheim am Wolfgangsweg direkt um die Ecke, hat Frau Schröder sie täglich besucht. Danach ist sie wieder in ihr Büro an der Englischen Planke gegangen. Damals hatte sie neben ihrem kleinen Haus in Niendorf auch ein Zimmer gegenüber der Kirche. Eigentlich wohnten dort immer Zivildienstleistende, Frau Schröder wollte nah bei ihrer Mutter sein. Der Vater war gestorben, kurz nachdem die Mutter wegen des Schlaganfalls ins Heim musste. Frau Schröder erzählt viel von den Eltern und vom Michel, sie ist eine sympathische Frau mit mädchenhaftem Lachen. Sie hat Zeitungsausschnitte über den Michel gesammelt und die Zettel, die ihr Vater einst schrieb - "Sind schnell ins Dorf und gleich wieder da, meine Deern, liebe Grüße, Dein Vaddi (der beste auf der Welt)", steht da zum Beispiel.

Und jetzt ist sie mittendrin in ihrem Leben. Sie braucht nur Minuten, um von Jahren zu erzählen. Beim nächsten Schlag der Glocke ist wieder ein Jahrzehnt vergangen. Der Vaddi hat ihr Anfang der 60er-Jahre gesagt, dass sie sich eine Stellung suchen müsse. Die junge Heike, 23, war nach zwei Jahren als Au-pair-Mädchen aus England zurückgekehrt. Im Hamburger Abendblatt stieß sie auf eine Anzeige. Wenige Wochen später war sie Sekretärin von St. Michaelis. Eine mit Englischkenntnissen, das war dem Hauptpastor wichtig. Schon als zwölfjährige Schülerin hatte sie sich in den Engel der Verkündigung verliebt, der in der Kirche steht.

"Tante Heike" ist ihr Spitzname geblieben, obwohl die Kinder der Pastoren, die sie so nannten, längst erwachsen sind. Niemand kennt so viele Geschichten um den Michel wie Tante Heike. Nicht nur die großen, wie die Kirche abgebrannt ist, wie die neue Glocke kam oder Andy Warhol. Sie hat drei Hauptpastoren erlebt. Als einer von ihnen Bischof von Oldenburg wurde, lag sie gerade im Krankenhaus. Sie hat nur dreimal gefehlt in all den Jahren, und ausgerechnet, als sie nicht da war, ging ihr der Chef stiften. "Er hat mich im Krankenhaus angerufen und es mir selbst gesagt, so habe ich am nächsten Tag keinen Schock bekommen." Frau Schröder sagt "Chef", wenn sie vom Hauptpastor spricht, und manchmal weiß man nicht, welchen sie gerade meint. Sie hat dafür gesorgt, dass die Arbeit ihrer Chefs möglichst reibungslos verlief. Sie ist gern Sekretärin. Für die Zeit ihres Lebens.

Vor ein paar Jahren hat sie in Niendorf nach 50 Jahren ein Klassentreffen gefeiert. Die anderen waren ein bisschen angeberisch, sagt Frau Schröder, "das mag ich nicht". Umso schlimmer, dass manche ihren Job gering schätzen - wie kann man für die Kirche arbeiten? Frau Schröder ist darauf immer stolz gewesen. Was haben denn die anderen schon gemacht? Schnell geheiratet und Kinder bekommen. Nur auf eine Klassenkameradin war sie ein bisschen neidisch, sie war Tänzerin und hatte eine Wespentaille, "ich war ja immer eher stabil".

Seit 2005 arbeitet sie ehrenamtlich für die Stiftung der Gemeinde und steht morgens jeden Tag um Viertel vor sechs auf. Und bleibt bis abends. Sonntags geht sie in den Gottesdienst, danach auf den Friedhof, ihre Eltern liegen in Niendorf. Den Mann des Lebens hat sie nie kennengelernt, da war nichts zu machen.

Sie ist in all den Jahren immer glücklich gewesen. Vielleicht weil sie sich das nicht immer gefragt hat. Das ist ja die Krankheit der Moderne. Frau Schröder möchte noch lange für die Gemeinde arbeiten, wenn sie gesund bleibt "und sie mich hier noch wollen". Die Zeit vergeht schneller, immer schneller.

"Meine Tage ziehen so schnell an mir vorbei", sagt Frau Schröder. Aber wenn sie morgens in die Englische Planke einbiegt, steht er immer da, der Michel, und schlägt gerade die achte Stunde.