Ein schweigender Zug von Menschen schiebt sich durch die Straßen. Einige Menschen mit Blumen in der Hand. Mit Kerzen auch. Alles still. Am Rand die Herren mit den grauen Anoraks, immer wieder. In den Seitenstraßen sieht man Lastwagen, leer, ungewöhnlich viele Busse, auch leer. Die an den Seiten und die, die mitgehen, sind nicht alle von der gleichen Sorte ...

Überall Volkspolizisten mit Blick in die Unendlichkeit. Eine Frau spricht einen an. Sein Blick geht durch sie hindurch. Sie geht weiter. Schweigen. "Wenn du geschnappt wirst, ruf ganz laut und oft deinen Namen, dann können die anderen dich suchen." Das war die Devise für den Ernstfall. Man ahnt: Wenn hier irgendwas falsch läuft, gibt's ein Desaster.

Hinten ist die Kirche zu sehen. Eben noch Gebet da drinnen. Für freien Atem.

Es entsteht ein Sprechchor und verstummt. Was haben sie gerufen?

Das Kopfsteinpflaster im Land bebt leise. Ausgewählte Jugendgruppen dürfen den Vorsitzenden besuchen. Er darf neue Wörter versuchen. Man darf zuschauen im Fernsehen. Hier geht die Menge, sie schaut nicht fern. Sie schaut in eine andere Ferne, die noch verhangen ist. Aber alle wissen: So wie bisher wird es nicht mehr sein.

Die Frau bietet einem anderen Volkspolizisten die Rose an. Der schaut zu Boden. Die Menge geht weiter. Ein großes Geräusch beginnt: Die Kirchenglocken läuten los.

Die Gesichter gehen auf, schauen nach oben, auch die grauen Herren. Klang über der Menge. Viele atmen durch, das erste Mal heute. Die Glocken läuten eine andere Welt ein, eine mögliche. Sie sind älter als alles andere hier.

Die Frau geht wieder zu einem Vopo mit ihrer Blume. Er schaut sie an. Sie schaut ihn an. Sie reicht sie ihm. Er nimmt sie nicht, aber er weist auf das Auto vor sich. Sie legt sie darauf. 20 Jahre später. Das Auto ist weg, die Rose auch. Die Frau zur Rose wohnt heut noch in Leipzig und geht manchmal um 18 Uhr am Sonnabend den Weg der Menge nach. Schritt für Schritt, weil sie dann die Glocken von damals wieder hören und manchmal unbemerkt weinen kann über das sanfte Wunder. Die Glocken läuten den Sonntag ein, sie läuten die Panik vom Platz und den Knebel aus dem Mund.

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