In seiner Jugend lauschte er Geschichten von Seereisen. 1956 ging Kapitän Niels Callsen erstmals an Bord. Und erst heute endgültig an Land.

Hamburg. Es hilft nichts. Wenn die Mannschaft nicht hören will, muss er zu härteren Maßnahmen greifen. Kapitän Niels Callsen löst auf der Brücke des Containerschiffs "Rio Negro" Generalalarm aus. Laut ertönt das Schiffstyphon am Burchardkai, und im spätsommerlich sanften Wetter gestern Nachmittag ist es noch weit in Hamburg zu hören. 26 Mann Besatzung erscheinen kurz darauf auf der Brücke, mit fragenden Blicken. "Los, esst was, go ahead!", fordert Callsen sie auf und scheucht die verdutzten Männer ans Büfett. Der Kapitän hat gerade das letzte Mal Hamburg angesteuert. Heute wird er von Bord gehen und seinen Dienst quittieren - nach 53 Jahren im Dienst von Hamburg Süd, als mit Abstand dienstältester Mitarbeiter. Doch das Aufsehen um seine Person, die kleine Überraschungsfeier, die die Reederei für ihn an Bord organisiert hat, ist ihm zu viel. So scheint es jedenfalls.

Erst zwei Stunden zuvor war er in Hamburg angekommen, eine Stunde verspätet. "Nebelfahrt heute Nacht", brummt Callsen, den man im Film nicht besser besetzen könnte, suchte man nach einem altgedienten, leicht knorrigen Seemann. Klare, laute Anweisungen, eine Spur zu harsch ("Ich hasse Segler, die haben mich in der Nordsee geärgert"), aber schaut man dann hinter die harte Schale, "findet man den sprichwörtlichen weichen Kern", sagt Sohn Jan Callsen (31) und schaut voller Stolz auf den Mann, der in Häfen weltweit geschätzt wird. Er selbst will die Familientradition fortsetzen.

Schon Niels Callsens Urgroßvater fuhr zur See, sein Großvater, sein Vater. 1941 in Hamburg geboren, wurde er in den letzten Kriegsjahren bei einer Thüringer Familie einquartiert. Hier, bei "Tante Schlegelmilch", die ihm von Seereisen über den Atlantik erzählte, saß er auf der Treppe "und musste rudern". Mit 15 Jahren sollte es mehr werden als nur ein schönes Spiel: Callsen heuerte am 2. Februar 1957 bei der Hamburg Süd an und konnte gleich am nächsten Tag als Decksjunge auf der "Ravensberg" anfangen. Seine erste Reise führte ihn ins Mittelmeer, später in Häfen weltweit. Nicht alles gefiel ihm gut: "Ich hatte was gegen Herrn Bush - als Seemann wird man in den USA regelrecht diskriminiert", sagt Callsen.

Er greift zum Feuerzeug. Die Schachtel Villiger-Zigarillos haben ihm seine Söhne mitgebracht. Jan, mit 31 Jahren der Älteste, ist die letzte Fahrt mit dem Vater gemeinsam gefahren. Ein großer Wunsch von Niels Callsen - und als Hamburg-Süd-Sprecherin Eva Graumann das in ihrer kurzen Ansprache auf der Brücke erwähnt, muss der gestandene Mann um Fassung ringen. "An seinem 68. Geburtstag, dem 29. Juni, sind wir von Hamburg losgefahren", erzählt Jan Callsen. Gestritten hätten sie während der zwölf Wochen kein einziges Mal, nur gefrotzelt: "Er nennt mich Kindermädchen, ich ihn Reiseleiter", erzählt der Sohn und lacht. Antwerpen, Buenos Aires, Montevideo, Rotterdam und Tilbury sind nur einige Stationen auf dieser letzten Fahrt des dienstältesten Kapitäns der Hamburg Süd, wenn nicht sogar Deutschlands.

Eigentlich hatte er mit 63 Jahren aufhören wollen. Doch dann erkrankte seine Frau Margret, die er 1975 in dem Jahr geheiratet hatte, in dem er Kapitän wurde, an Krebs und starb 2004. Die vier Söhne Jan, Tim (26), Dirk (24) und Till (21) rieten ihm daraufhin, weiter zur See zu fahren, um den Verlust besser verschmerzen zu können. "Und als Tim sich bereit erklärte, sich um unseren Jüngsten zu kümmern, habe ich das dann auch gemacht", sagt Niels Callsen. Seine Bedingung: keine Flüge mehr ins Ausland, Ein- und Aussteigen nur noch in Hamburg. Die Reederei ging gerne darauf ein, denn so gute und erfahrene Kapitäne wie Callsen gibt es nicht an jeder Ecke.

Doch jetzt ist wirklich Schluss. Drei Hurrikane hat er überstanden, ist 40 verschiedene Schiffe gefahren, vom Tanker bis zum Frachtschiff. Hat es denen bewiesen, die ihn für nicht mehr seetauglich einstufen wollten, als er sich 1960 an Bord der "Cap Ortegal" einige Finger der rechten Hand an einer Eisentür einklemmte. Hat es Ende der 70er-Jahre ertragen, dass ein junger Mann seiner Mannschaft freiwillig über Bord ging. Und die Veränderungen seines Berufs in den letzten Jahren missbilligend verfolgt: "Heute ist man nur noch zu fünf Prozent Kapitän. Und zu 95 Prozent Verwaltung."

Wenn er heute nach der Übergabe mit seinem Nachfolger von Bord geht und nach Buxtehude fährt, hat er schon Pläne im Kopf: "Deutschland kennenlernen mit dem Auto". Aquarelle zeichnen. Und mit der HVV-Karte auf einer Hafenfähre den Hamburger Hafen mal aus einer ganz anderen Perspektive sehen.

In ihrem neuen Buch "Wellenbrecher - Kapitäne erzählen ihre besten Geschichten" (Ankerherz Verlag, 248 Seiten, 29,90 Euro), das gerade erschienen ist, haben Autor Stefan Krücken und Fotograf Achim Multhaupt die Erinnerungen von 25 Kapitänen zusammengefasst. Darunter ist auch Niels Callsen.