Wie reagierten die Hamburger auf die Nachricht vom Kriegsbeginn? Wir fragten den renommierten Hamburger Zeitgeschichtler Frank Bajohr.

Abendblatt:

Wie haben die Hamburger Zeitungen den Kriegsbeginn thematisiert?

Frank Bajohr:

Interessanterweise kommt das Wort Krieg zunächst gar nicht vor. Selbst am 1. September schreibt das nationalsozialistische "Hamburger Tageblatt" nicht vom Krieg, sondern vom "aktiven Schutz des Reiches", den die Wehrmacht nun übernommen habe. Die selbst inszenierten Kriegsgründe werden natürlich propagandistisch dargestellt, trotzdem klingt das alles eher nach einer Polizeiaktion. Selbst am 4. September, einen Tag nach der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs, wird diese Nachricht nur sehr indirekt und fast schon verschlüsselt wiedergegeben.

Abendblatt:

Viele Hamburger haben den Kriegsbeginn aus dem Radio erfahren. War das Hören der Führerrede in den Betrieben von langer Hand geplant?

Bajohr:

Das gemeinschaftliche Hören einer Führerrede war in vielen Firmen schon seit 1933 institutionalisiert. Am 1. September 1939 dürfte das allerdings sehr kurzfristig bekannt gegeben und organisiert worden sein. Aus dem Tagebuch des Bürgermeisters Krogmann wissen wir, dass die Spitzen von Staat und Partei in Hamburg um neun Uhr zusammengetreten sind, um über den Kriegsbeginn informiert zu werden.

Abendblatt:

Wie war die Stimmung an diesem Tag in der Stadt?

Bajohr:

Im Juli 1939 hatte der britische Generalkonsul nach London gemeldet, dass in Hamburg niemand einen Krieg wolle. Über den 1. September selbst liegen keine Berichte vor. In der Hamburger Presse ist darüber nichts zu lesen. Daraus lässt sich allerdings schließen, dass es kaum Kriegsbegeisterung gab. Szenen wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als Frauen den Soldaten Blumen in die Gewehrläufe gesteckt hatten, wiederholten sich nicht. Wenn auch nur wenige Menschen öffentlich gejubelt hätten, wäre ganz sicher darüber berichtet worden. Am 4. September schreibt das "Hamburger Tageblatt", dass die Bevölkerung besonnen reagiert habe. Die Menschen würden in ihren Schrebergärten die Ernte einbringen. Zum ersten Mal ging das "Tageblatt" damit auf die Stimmung überhaupt ein. Daraus kann man ersehen, wie prekär die Situation für das Regime war. Statt Begeisterung herrschte wohl eher eine allgemeine Beklommenheit, die sich am 3. September nach dem Kriegseintritt von Frankreich und Großbritannien noch verstärkt haben dürfte.

Abendblatt:

Die Bevölkerung war doch aber propagandistisch auf den Krieg vorbereitet worden.

Bajohr:

Hitler und sein Regime wollten den Krieg unbedingt. "Es soll mir kein Schweinehund mehr einen Kompromissvorschlag machen", hatte Hitler 1938 als Reaktion auf das Münchner Abkommen gesagt. Das Problem für die Machthaber war, dass sich Hitlers Popularität bis dahin vor allem darauf gründete, die Revision des Versailler Vertrags ohne Krieg und äußere Gewalt erreicht zu haben. Die Exilorganisation der SPD berichtete damals, dass Hitler den Spitznamen "General Unblutig" in der Bevölkerung habe, weil die Menschen glaubten, dass er zwar große Risiken eingehe, sich aber letztlich noch alles zum Guten fügen würde. Die große Mehrheit wollte sicher keinen Krieg, sondern fürchtete sich davor. Das darf man nicht mit einer regimekritischen Haltung verwechseln, aber für die NS-Machthaber war das Anfang September dennoch eine schwierige Situation. Die Stimmung veränderte sich erst nach den schnellen militärischen Erfolgen, als viele hofften, der Krieg könne schnell gewonnen werden.

Abendblatt:

Gab es repressive Maßnahmen?

Bajohr:

Im Reich wurden rund zweitausend Polen verhaftet, dies betraf auch polnische Arbeiter in Wilhelmsburg. Das polnische Vereinswesen und polnische Gottesdienste wurden verboten, was vor allem das Ruhrgebiet betraf, wo Polen im Bergbau und der Schwerindustrie beschäftigt waren.

Abendblatt:

Was geschah mit den Konsulaten?

Bajohr:

Die Angehörigen des polnischen, des britischen und des französischen Konsulats wurden interniert und zumeist über neutrale Länder ausgetauscht.

Abendblatt:

Was änderte sich im Alltag sofort?

Bajohr:

Noch am 1. September wurde die Verdunklung befohlen. Die Bevölkerung musste sich bei ihren Zeitschriftenhändlern Verdunklungspapier kaufen und die Fensterscheiben damit bekleben. Außerdem wurden Lebensmittel und andere wichtige Alltagsgüter rationiert. Mit der Mobilmachung hatte man schon einige Tage vorher begonnen, nun teilten die Behörden mit, wie die Versorgung der "Kriegerfrauen" geregelt war.

Abendblatt:

Was gab es da für Regelungen?

Bajohr:

Die Versorgung war so großzügig wie in keinem anderen Krieg führenden Land. Die Frauen der Soldaten erhielten bis zu 85 Prozent des vorherigen Familieneinkommens. Die "Heimatfront" sollte auf diese Weise ruhiggestellt werden.

Abendblatt:

Wenn ein großer Teil der Männer innerhalb weniger Tage eingezogen wird, muss das für die Wirtschaft einer Stadt wie Hamburg enorme Folgen haben.

Bajohr:

Das war in der Tat eine Situation, die enorme Umstellungen erforderlich machte und die auch nicht innerhalb weniger Tage bereinigt werden konnte. Grundsätzlich war Hamburg als eine Stadt, deren Wirtschaft auf internationalen Austausch und Welthandel gründete, besonders stark vom Krieg betroffen. Der Verkehr im Hafen sank schlagartig, der gesamte Handel mit Nord- und Südamerika kam zum Erliegen. Alle Import- und Exportfirmen waren von der neuen Situation betroffen. Schon deshalb dürften in Hamburg die Vorbehalte gegen einen Krieg größer gewesen sein als etwa in Städten im Ruhrgebiet, die ganz direkt von der Rüstung profitierten.