Kokainspuren an Geldscheinen und im Abwasser zeigen: Der Drogenkonsum nimmt zu. Ein Ex-Dealer packt aus.

Hamburg. Wenn Kalle freitagabends das Haus verließ, steckte in seiner Hemdtasche eine Schachtel Marlboro mit 100 Gramm Stoff. Kalle winkte sich ein Taxi heran, stieg ein, hinten, und nannte dem Fahrer eine Adresse. Sein Ziel war meist ein Klub am Rande der Stadt, in dem der Beat klopfte und das Partyvolk wartete, dass er, Kalle, kommt, um ihnen die Nase zu stopfen. Bestellt und bezahlt hatten sie beim Türsteher, mit dem Eintritt. "Ich bin vorgefahren, habe das Taxifenster runtergekurbelt, und wir haben Geld gegen Stoff getauscht", erzählt Kalle. 100 Gramm Koks brachten ungefähr 7000 Euro. "Ich bin nie ausgestiegen."

Es ist eine klischeeträchtige Szene. Eine, die dazu beiträgt, Koks auf den Stoff des feiernden Jungvolkes zu reduzieren, auf das Luxus-Pulver der Großstadt-Yuppies unter Leistungsdruck, auf die Droge der Menschen, die immer oben surfen wollen, ohne zu wissen, wo das wahre Oben im Leben ist.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit, sagt Kalle. Mit denen hätte er nämlich nicht die "dicke Kohle" gemacht. "Die haben meine Dauerkunden gebracht", sagt Kalle. Ärzte, Rechtsanwälte, selbstständige Handwerksmeister. "Von denen hat jeder 1500 Euro in der Woche weggekokst."

Kalle ist 45 Jahre alt. Seine kurzen braunen Haare wirken getönt, die Sonnenbrille verbirgt blaue Augen. Sie scannen Menschen mit einem Blick. Am liebsten würde er die Brille auflassen, sagt Kalle und nimmt sie ab. "Ich bin ja gut erzogen."

Kalle will reden. Über das Geschäft mit dem Koks, seine Vergangenheit als Dealer, als "dicker Fisch", wie er sagt. "Ich hab die ganze verlogene Scheiße satt. Immer wird mit dem Finger ins Ausland gezeigt. Ich hab das Zeug bis in die deutsche Pampa liefern lassen, auf so Hundert-Seelen-Dörfer. Diese ganze Republik ist doch verkokst!", sagt Kalle.

Unlängst hatten Untersuchungen in den USA ergeben, dass bereits an neun von zehn Geldscheinen in Großstädten Kokainrückstände hafteten. Die wenigen verfügbaren Zahlen über den Konsum hierzulande sind ebenfalls alarmierend. Nach einem Bericht des Institutes für Therapieforschung in München für das Bundesgesundheitsministerium aus 2006 haben rund zwei Millionen Deutsche schon gekokst. Experten schätzen, dass seither der Konsum weiter gestiegen ist.

Kalle sitzt in einem klimatisierten Café in einer hessischen Metropole in Bahnhofsnähe. Das zu schreiben wäre okay, sagt er. Aber bloß keine echten Namen, auch seinen natürlich nicht. Den Treffpunkt hat er bestimmt. "Seit einem Jahr bin ich jetzt hier, weg aus meinem Bezirk", erzählt er.

Kalles "Bezirk" war eine Stadt in Baden-Württemberg. Knapp 100 000 Einwohner, kleine Fußgängerzone, sonnabends wurden die Straßen gekehrt. "Alles Fassade", sagt Kalle, greift sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nase, drückt die Flügel zusammen, schnieft. Obwohl er seit anderthalb Jahren clean sei, mache er das noch häufig, Gewohnheit.

Sein erstes Mal hatte er mit 28, sagt Kalle. Damals arbeitete er in der Gastronomie, knüppelte 16 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Seine Kollegen waren gut drauf, immer fit, das wunderte Kalle. "Irgendwann hat mich mal einer mit ins Lager genommen, eine Bahn auf einen Dessertteller gelegt und mir einen zusammengerollten Geldschein hingehalten." Ob er gezögert hat? Nein. Was er gefühlt hat? "Da ging die Sonne auf! Das war Wahnsinn! Ich fühlte mich frei, so wach, als hätte ich alles im Griff!" Kalles Augen glänzen. Er lächelt, zum ersten Mal.

Damals kostete das Gramm noch 250 Mark. "Einmal im Monat, mehr war da nicht drin." Bekam er den Stoff nicht von seinen Kollegen, ging er selbst einkaufen. "Du brauchst doch nur in eine Kneipe zu gehen, dir an die Nase zu packen und zu gucken, wer mit der gleichen Geste antwortet."

Zum Dealer wurde Kalle durch eine Bekannte. "Sie hatte ein Verhältnis mit einem Schwarzen aus Bremen, der astreines Zeug an den Mann bringen wollte." Kalle wollte ihr einen Gefallen tun, sagt er. Den Stoff wurde er schnell los.

Kurz darauf bekam Kalle Besuch. Von Kadir, einem "Vorzeigetürken", wie Kalle ihn nennt. Fabrik-Vorarbeiter mit Reihenhäuschen in der Vorstadt, im Carport davor eine VW-Familienkutsche, im Garten dahinter kiloweise Koks und Bargeld. "Verbuddelt unter der Schaukel seiner Kinder", sagt Kalle.

Kadir legte ihm ein Gramm Koks auf den Tisch. Reinheitsgehalt 80 Prozent. "Bombenstoff. Da standen einem die Haare zu Berge", sagt Kalle. Er fasst sich an die Nase, drückt sie, schnieft.

Der Türke suchte einen Vertrauten, einen zweiten Mann unter sich. Eine Woche später saß Kalle mit Kadir im Auto nach Rotterdam. Auf einem Hotelzimmer trafen sie drei Jungs aus Ghana. Einer legte drei Röhrchen auf den Tisch, lud sie mit einem Nicken ein. "Dann testeten wir, und wenn das Zeug gut war, der Preis stimmte, waren wir im Geschäft", sagt Kalle.

Um den Stoff nicht selbst über die Grenze schmuggeln zu müssen, ließen sie ihn für 1000 Euro Aufpreis anliefern. "Unsere Treffpunkte für die Übergabe haben wir in geschützten Sex-Chatrooms oder in Foren auf türkischen Webseiten ausgemacht", sagt Kalle. Sein Nickname: Monchichi.

Auf Rastplätzen, in Parks, in der Stadt nahm Kalle die Ware entgegen. "Ich bin spazieren gegangen, bis ein Auto neben mir hielt. Ich bin eingestiegen, und während der Fahrt haben wir Übergabe gemacht."

Zu Hause in seiner Küche holte Kalle seine Digitalwaage raus, wog das Pulver, verpackte es in Papierbriefchen. Den reinen Stoff, 100 Euro das Gramm, bekamen der Chefarzt der Chirurgie des städtischen Krankenhauses und dessen Kollege aus der Inneren Medizin, eine sympathische blonde Physiotherapeutin mit eigener Praxis, aber auch die Abteilungsleiterin einer Versicherung. Kurz: Kalles Dauerkunden.

Den "Stoff für die Straße", 60 Euro das Gramm, streckte er im Verhältnis 1:1 mit Kieselerde oder Milchpulver. Den verteilte er dann an seine "Laufburschen", eine Handvoll Arbeitslose, um die 20 Jahre alt, die dann mit dem Zeug in den Hosentaschen in den Kneipen saßen, sich an die Nasen fassten, schnieften, wenn sich jemand suchend umschaute. Oder das Zeug auf Bestellung per Handschlag an Bushaltestellen, in Spielhöllen oder Bahnhöfen verteilten.

"Meine Kunden habe ich nur persönlich betreut", sagt Kalle. Die Besitzerin eines Nagelstudios traf er zum Beispiel einmal die Woche beim Italiener. Sie bestellte drei Gänge, den vierten bekam sie unter der Serviette über den Tisch geschoben. Dem Chefarzt, Polohemd, gepflegter grauer Schnauzer, Tennisarm, lieferte Kalle das Zeug an die Tür der Notaufnahme, den Rechtsanwälten direkt an den Schreibtisch, ebenso einem Druckerei-Chef.

"Ich war jederzeit erreichbar", sagt Kalle. In seinen Taschen trug er immer fünf Prepaid-Handys, jedes ohne UMTS- oder GPS-Funktion, damit man ihn nicht orten konnte. Die Nummern wechselte er wöchentlich. Montags gab er die neuen durch.

Die Geld, das Kalle verdiente - wie viel genau, möchte er nicht verraten, "Prahlerei" -, versteckte er zu Hause in der Kaffeedose oder gerollt in Plastikhandschuhen im Toiletten-Spülkasten. Sich selbst versüßte er das Leben mit drei bis vier Gramm täglich, die er durch ein Silberröhrchen zog. Ab und zu aber auch im Hinterzimmer eines Nachtklubs. "Da habe ich dann die Nutten tanzen lassen", sagt Kalle. So viel zum Klischee.

Am Vormittag des 6. Februar 2008 war Kalles süßes Leben vorbei. Er hatte gerade für einen Kumpel die DVD "Born to be wild" gebrannt, will sich Kalle erinnern, als das Sondereinsatzkommando klingelte. "Ich hab die Tür aufgemacht und in Pistolenläufe geguckt."

Weil er fast ausverkauft war, die Ermittler ihm nicht mehr Handel nachweisen konnten, wurde Kalle nur zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Sechs Monate davon saß er im Knast, dann wurde er gegen Therapie- und Bewährungsauflage entlassen.

In einer Suchtklinik freundete er sich mit einer Frau, nennen wir sie Tanja, an. "Die hätte meine Kundin sein können", sagt Kalle. Die dunkelhaarige Mediengestalterin aus Schleswig-Holstein und ihr Mann, ein Steuerberater, waren acht Jahre lang auf Koks. "Deren ganzer Bekanntenkreis hat gekokst", erzählt Kalle. "Das Zeug haben die beim Pizza-Bringdienst bestellt. ,Doppelt Käse' bedeutete zwei Gramm. Oder sie hat ihren Dealer im Supermarkt an der Käsetheke getroffen." Wie das geht? "Na, der hat das dann Tütchen fallen gelassen und sie hat ihm die Kohle zwischen den Regalreihen zugesteckt." Um ihre Sucht zu finanzieren, haben Tanja und ihr Mann auf Urlaube und jeden Luxus verzichtet. "Die Droge gibt dir das Gefühl, dass es dir an nichts mangelt", erklärt Kalle.

In der Therapie begegnete Kalle auch sich selbst. "Jahrelang war ich wie ein Zombie durch die Gegend gerannt, da habe ich das echte Leben, mich zum ersten Mal wieder gefühlt", sagt er. Die Auseinandersetzung mit sich sei schmerzhaft gewesen, aber am Ende hatte Kalle einen neuen Lebensentwurf. Einen, in dem Drogen keine Rolle mehr spielen sollen. "Meine erste Entscheidung war, dass ich woanders neu anfange." Fünf Monate später drückte ihm sein Vermieter einen Schlüssel in die Hand. Statt 85 Quadratmeter feinster Altbau mit Ahornholzmöbeln, weißer Ledercouch und Porsche-Küchengeräten ist heute eine Zwei-Zimmer-Hochhauswohnung sein Zuhause.

Kalle lebt von Hartz IV. Manchmal vermisst er sein altes Leben. "Vieles war schon sehr geil", sagt Kalle. Koks sei halt echt weißes Gold, so wie Falco es besungen hat in seinem Song "Mutter, der Mann mit dem Koks ist da".

Falco war Kalles Idol. "Das war ein ganz sensibler Mensch, das hat nur keiner gesehen", sagt der Ex-Dealer und grinst. "Mit einem Kumpel habe ich mal sein Grab in Wien besucht. Wir haben ihm ein halbes Gramm auf den Grabstein gelegt, als Mitbringsel sozusagen." Kokser scheinen nicht nur das Leben, sondern auch sich verdammt geil zu finden.

Für seine Vergangenheit schämt sich Kalle nicht. "Nee! Warum denn? Ich hatte ja gutes Zeug! Ich habe nie Sauereien gemacht, Glasscherben oder Amphetamine in den Stoff gemischt. Und nichts an Kinder verkauft." Er klingt dabei wie ein pensionierter Apotheker, nicht wie ein verurteilter Rauschgifthändler.

Kalles Handy klingelt. Es ist ein altes, blaues Nokia-Handy ohne Ortungsfunktion, auf dem Display ist ein Regenbogen. Kalles Tochter ist dran. Sie ist 26, hat ihn gerade zum Opa gemacht. "Ja, alles ist gut", sagt Kalle. Er sei nur in einem Gespräch. "Ja, es ist wirklich alles in Ordnung", versichert er noch einmal. Dann legt er auf und spielt nachdenklich mit seinem Handy. Vor drei Wochen habe ihn ein Syrer angerufen, sagt Kalle. "Keine Ahnung, woher der meine Nummer hatte. Aber er wollte mich anheuern. Meine Kunden würden mich vermissen, hat er gesagt, und dass die Geschäfte besser denn je laufen." Kalle schweigt einen Moment. Dann sagt er: "Ich habe bestimmt drei Wochen überlegt, mich dann aber dagegen entschieden." Ob er die Nummer gelöscht hat? Kalle grinst.