Verena Töpper und Fotograf Andreas Laible haben Bewohner getroffen, die Rotwein mit Cola trinken und Zeitung als Hobby betreiben.

Hamburg. Die Ratten waren zuerst da. Dann kamen die Schaulustigen. Sie klopften an die Wände, um zu prüfen, aus welchem Material sie sind. Das Datum ihres Einzugs in die 96-Quadratmeter-Wohnung am Kaiserkai 7 weiß Susanne Wegener (59) noch ganz genau: Es war der 15. Juli 2006. Am nächsten Morgen wurden sie und ihr Lebensgefährte Thomas Path (56) von einem lauten Tuten geweckt, dem Schiffshorn der "Queen Mary 2".

Den Luxusliner konnten sie vom Bett aus sehen. Denn dort, wo heute das Unilever-Gebäude, Kräne und Bauskelette die Sicht auf die Schifffahrtsrinne versperren, gab es nichts als Sand und Steine und Ratten. Die drei Häuser mit den Nummern 3, 5 und 7 waren die ersten am Kaiserkai. Wegener hat den Wandel der Straße von dieser Großbaustelle zur urbanen Architekturmeile miterlebt. Es sei spannend gewesen, damals von der Arbeit nach Hause zu gehen, sagt sie. "Jeden Abend sah die Straße anders aus."

Rund ein Jahr lang mussten sie und die anderen Pioniere der HafenCity auf den ersten Lebensmittelladen am Kaiserkai warten. Harbour Tobacco ist klein wie ein Kiosk, kann aber mit dem Sortiment eines Supermarktes mithalten. Toastbrot, Zahnpasta, Kaffee, Schnaps und Taschentücher stapeln sich in den Regalen fast bis zur Decke. "Wir versuchen, alles zu haben", sagt Brian Jones (36). Ausgerechnet das neue "offizielle Kaltgetränk des FC St. Pauli", ein Mix aus Rotwein und Cola, der sich "Kalte Muschi" nennt, ist der neue Verkaufsschlager. Auf den ersten Blick passt Kalte Muschi nicht zu den in der Sonne blitzenden Glasfassaden der futuristischen Wohnhäuser, zu den schick angezogenen Menschen, die mit ihren Luxusautos schnell in den Garagen verschwinden, zur edlen Teelounge Meßmer Momentum und dem noch edleren Designerladen Thai Cong-Interior. Doch da sind auch die jugendlichen Basketballspieler, die Senioren, die auf ihrem Rollator Brötchen transportieren, und die Mütter, die mit ihren Kindern zum selbst gebauten Spielplatz hinter den Marco-Polo-Terrassen pilgern.

Der Kaiserkai ist eine mondäne Straße, aber auch eine bürgerliche. Die Mietpreise bewegen sich zwischen 9 Euro und 18 Euro pro Quadratmeter. Und obwohl die HafenCity das Gegenteil von Dorf ist, ist dieser Begriff der erste, der den Bewohnern einfällt, um das Lebensgefühl in ihrer Straße zu charakterisieren. Teil eines Experiments zu sein, das Stadtplaner, Architekturprofessoren und Soziologen aus aller Welt verfolgen, schweißt zusammen. Jeder kennt jeden.

Und jeder nimmt, oft unfreiwillig, am Leben der anderen teil. "Die Architektur lädt zur Kommunikation ein", drückt es Susanne Wegener diplomatisch aus. Man könnte auch sagen: Die bis zum Boden reichenden Fenster der dicht an dicht stehenden Häuser offenbaren alles. Wer wann nach Hause kommt, ob gerade gekocht oder gestritten oder der Freund auf dem Sofa ausgezogen wird - die Nachbarn sind live dabei. Das nervt, gibt aber auch Sicherheit: Hier liegt niemand lange ohnmächtig auf dem Boden.

Vor allem die Baugenossenschaften versuchen, dieses Wir-Gefühl zu stärken. Eine komplette Wohnung hat etwa die Baugenossenschaft Bergedorf-Bille ihren Mietern als Gemeinschaftsraum zur Verfügung gestellt. Einmal im Monat finden dort Lesungen oder Diskussionsrunden statt. Zu denen kommen auch Anwohner aus anderen Häusern. Etwa Manuela Schiermann aus der Nr. 33. Die quirlige 34-Jährige betreibt eine Werbeagentur und verkauft nebenbei Jacken, Polohemden, Postkarten und Aufkleber mit einem von ihr kreierten HafenCity-Logo.

Wenn der Kaiserkai ein Dorf wäre, dann wäre Manuela Schiermanns Büro der Marktplatz. Hier wird der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht, der nächste Flohmarkt geplant oder der Hund abgegeben. Manuela Schiermann spielt gerne den Hundesitter. Manchmal verlässt sie den Kaiserkai wochenlang nicht. Denn wie Brian Jones, dessen Wohnung vom Harbour Tobacco nur durch eine Schiebetür getrennt ist, wohnt sie neben ihrem Laden. Auch Melanie Brünker (27) hat es nicht weit. Von ihrem Küchenfenster aus kann sie ihren Friseursalon sehen. Über die Eröffnung berichtete auch die "HafenCity Zeitung". Sie ist das Hobby von Michael Klessmann (45), IT-Projektmanager aus dem Haus Nr. 25. "Der Kaiserkai ist das Sahnestück der HafenCity", sagt er.

Die nächsten Folgen: Fr, 28.8.: König-Heinrich-Weg (Niendorf), Mo, 31.8.: Fährstraße (Wilhelmsburg), Mi, 2.9.: Stübeheide (Ohlsdorf)