Heute vor 75 Jahren boxte Max Schmeling auf der Dirt-Track-Bahn in Hamburg vor einer ungeheuren Zuschauermasse gegen Walter Neusel.

Hamburg. Die Sonne, die am Nachmittag des 26. August 1934 schien, lockte die Hamburger aus ihren Häusern, um diesen Spätsommer-Sonntag zu genießen. Auch der acht Jahre alte Claus-Robert Agte war unterwegs, in Begleitung seines Kindermädchens besuchte er Hagenbeck's Tierpark. Doch was für Jungs in seinem Alter an normalen Wochenenden ein großes Vergnügen gewesen wäre, war für Claus-Robert an diesem Tag nur eine Ersatzbefriedigung. Viel lieber hätte er die wenigen Hundert Meter Luftlinie Richtung Osten zurückgelegt und an der Seite seiner Eltern, dem Bankier und HSV-Meisterfußballer Rudolf Agte und dessen Ehefrau Berta, einem Ereignis beigewohnt, das aufgrund seiner außergewöhnlichen Rahmenbedingungen Eingang in die Geschichtsbücher des Sports gefunden hat.

Auf der "Dirt Track" genannten Motocross-Bahn trat heute vor 75 Jahren Deutschlands Box-Idol Max Schmeling zu einem Schwergewichtskampf gegen den Bochumer Walter Neusel an. Was den Kampf zu einer Besonderheit macht, ist die unglaubliche Zuschauerresonanz, die er hervorrief. 102 000 Menschen waren in das Sand-Oval in Lokstedt geströmt, um ihren Helden zum Sieg zu schreien. In Europa gab es bis heute keinen Kampf, der auch nur eine annähernd hohe Zahl an Besuchern aufweisen kann.

Selbst weltweit sind nur zwei Faustkämpfe bekannt, die mehr Menschen anzogen. 135 132 Fans versammelten sich am 16. August 1941 im Juneau Park von Milwaukee (US-Bundesstaat Wisconsin), um ihren Lokalmatador Tony Zale im Mittelgewicht gegen seinen Landsmann Billy Pryor boxen zu sehen. Die größte Kulisse bei einem WM-Kampf gab es am 20. Februar 1993 im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt, als Volksheld Julio Cesar Chavez seinen WBC-Titel im Halbweltergewicht vor 132 247 Fans durch technischen K. o. in Runde fünf gegen Greg Haugen (USA) verteidigte.

Wie sich Hamburg in den Tagen vor dem großen Kampf auf Schmelings Auftritt freute, daran kann sich der heute 83 Jahre alte Agte gut erinnern. "Der Kampf war ein Mordsereignis in der Stadt, jeder sprach darüber. Die Weltwirtschaftskrise war gerade überwunden, und die Menschen freuten sich, dass sie ihr Idol live würden boxen sehen", sagt er. Agtes Vater kannte Schmeling durch gemeinsame Zeiten als Fußballer. Schmeling, am 28. September 1905 in Klein-Luckow in der Uckermark geboren und als wenige Monate altes Kind nach Hamburg gekommen, spielte als Jugendlicher für St. Georg, Agte senior für die HSV-Gründungsvereine Germania und Hamburger FC.

"Mein Vater war sehr aufgeregt und hatte für sich, meine Mutter sowie meinen Erbonkel und dessen Frau teure Logenplätze gekauft", erinnert sich Agte. Er selbst durfte als Achtjähriger nicht zusehen, sondern wurde in den Zoo geschickt. Erst 1957, neun Jahre nach Schmelings Karriereende, lernte er den Mann, den er schon 1934 als "meine Galionsfigur" bezeichnete, persönlich kennen und blieb ihm bis zu dessen Tod am 2. Februar 2005 freundschaftlich verbunden.

Wie groß der Aufruhr in der gesamten Stadt war, davon kündet der eine Seite lange Bericht im "Hamburger Fremdenblatt", Vorläufer des 1948 gegründeten Abendblatts. "Gegen 10 Uhr morgens hatte die Stadt schon ein anderes Gesicht als sonst sonntags. Der Strom der Fremden, die für den Kampf nach Hamburg gereist waren, machte sich bemerkbar", heißt es dort. Zweieinhalb Stunden vor Kampfbeginn staute sich der Verkehr stadtauswärts auf der Hoheluftchaussee, eine große Zahl an Verkehrspolizisten versuchte, den Strom der Fahrzeuge zu leiten. "Ihre Arme", so heißt es im Bericht, "wiesen immer nur in eine Richtung - stadtauswärts nach Lokstedt."

Stadtauswärts? Tatsächlich wurde Lokstedt erst 1937/38 Hamburger Stadtteil. 1867 war es preußisch geworden, 1927 wurde es durch einen Zusammenschluss mit Niendorf und Schnelsen zur Preußischen Großgemeinde Lokstedt. Die 1929 dort errichtete Motocross-Bahn war von Veranstalter Walter Rothenburg ausgewählt worden, weil sie die Möglichkeit bot, die erwarteten Zuschauermassen aufnehmen zu können. Das Gelände lag südlich des Gazellenkamps, eingerahmt von den Straßen Deelwisch, Kampstraße, Paulsweg und Carlstraße. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde es für Motorradrennen genutzt, nach dem Krieg als Deportiertenlager. 1957 erwarb der Norddeutsche Rundfunk (NDR) das Areal, von dem aus er heute noch sendet.

Rothenburg hatte bis zuletzt zittern müssen, ob das Wetter mitspielen oder die Besucher im Regen stehen oder sitzen lassen würde. Sechs Wochen lang hatte es gedauert, um die diversen Tribünen zimmern zu lassen. Eine Überdachung gab es indes nur für den Ring, selbst die Gäste auf den teuren Logenplätzen - über Eintrittspreise gibt es keine verlässlichen Quellen aus der Zeit - wären Opfer des Wetters geworden. Morgens lag ein dichter Wolkenvorhang über der Stadt, doch im Verlauf des Tages klarte es immer weiter auf, was das "Fremdenblatt" in unnachahmlicher Weise schilderte: "Die Wolkenmassen waren bald nach der Nordsee abgeschoben, wo sie hingehören. Die Sonne muss auch die Neugier geplagt haben."

Den Boxfans ging es ebenso. Um 15 Uhr, eineinhalb Stunden vor Kampfbeginn, waren bereits rund 40 000 versammelt, die mit Musik vom Band bei Laune gehalten wurden. Als gegen 16.30 Uhr Rothenburg den Hauptkampf ansagte, erschien als Erster Neusel. Der "blonde Tiger", so sein Kampfname, zwei Jahre jünger als der damals 28-jährige Schmeling, war in Deutschland zu der Zeit ein sehr bekannter, angesehener Boxer. Doch gegen den ExWeltmeister, der seinen 1930 in New York gegen Jack Sharkey gewonnenen Titel zwei Jahre später in der Revanche wieder an den US-Amerikaner verloren hatte, war der Westdeutsche, der 1964 im Alter von 56 Jahren starb, chancenlos.

Bereits in der ersten des auf zwölf Runden angesetzten Kampfes blutete Neusel aus dem Mund, in Runde zwei öffneten sich nach harten Kopftreffern Wunden an Auge und Nase. Lediglich die dritte Runde konnte Neusel laut "Fremdenblatt" für sich entscheiden. Ansonsten zeigte Schmeling dank seiner starken Physis und der großartigen Beinarbeit seine Klasse. "Er war jederzeit Herr der Situation und boxte eine Klasse besser als Neusel", heißt es in der Schilderung des Kampfgeschehens, das vom Bremer Ringrichter Max Pippow geleitet wurde. In der neunten Runde gab der schwer gezeichnete Neusel den Kampf unter dem großen Jubel der Fans auf. Immer wieder versuchten die Anhänger, in den Ring zu stürmen und ihr Idol hochleben zu lassen. Der Rückweg in die Umkleide geriet zum Hindernislauf. "Schmeling wurde vom Publikum begeistert gefeiert. Nur mit Mühe konnte er seine Kabine erreichen", schrieb der Beobachter.

Welche Erinnerungen der Sportler selbst an den Tag hatte, das weiß Herbert Woltmann (74). Der langjährige Direktor der Samtgemeinde Hollenstedt in der Nordheide, in der Schmeling seit 1949 lebte und auf deren Friedhof er begraben liegt, war über Jahrzehnte Schmelings engster Vertrauter. "Max hat über diesen Kampf nie viel gesprochen. Für ihn war es sportlich kein allzu besonderes Ereignis. Allerdings war er beeindruckt davon, dass so viele Menschen gekommen waren. Die Atmosphäre hat ihm sehr gut gefallen", sagt Woltmann, der sich an eine weitere Besonderheit erinnert. "Max hatte aus den USA einen Kampfmantel mitgebracht. Der war aus Wolle und dementsprechend warm und schwer, aber er trug ihn trotz der sommerlichen Temperaturen auch bei diesem Kampf."

Tatsächlich spielt das erste Duell mit Neusel, dem Schmeling in einem Revanchekampf im Mai 1948, fünf Monate vor seinem Karriereende, nach Punkten unterlag, in der Karriere des großartigsten deutschen Boxers nur eine untergeordnete Rolle. Selbst im Film "Max Schmeling" mit Ex-Weltmeister Henry Maske in der Hauptrolle, der 2010 in die Kinos kommt, findet er kaum Erwähnung. Der Hamburger Jurist Dr. Florian Asche (41), Vorstandsmitglied der Max-Schmeling-Stiftung, kennt den Grund dafür: "Die Duelle gegen Jack Sharkey, Young Stribling und natürlich Joe Louis waren sportlich um einiges attraktiver und hatten weltweite Aufmerksamkeit, weil sie in den USA stattfanden. Ob der enormen Zuschauerresonanz hätte der Kampf gegen Neusel jedoch mehr Aufmerksamkeit verdient."

So muss man ein letztes Mal den Bericht des "Fremdenblatts" zu Hilfe nehmen, um die Bedeutung dieses Tages für den Sport in Hamburg verstehen zu können. "Das hat Hamburg noch nicht erlebt, bei keinem Stapellauf, bei keinem Derby. Auch wer am Kampf nicht interessiert ist, muss zugeben, dass der Sport es fertiggebracht hat, ungeheure Menschenmassen zu mobilisieren", so das Fazit. Zwar säumen heutzutage bei Massen-Sportevents wie dem Marathon oder dem Radrennen Cyclassics bis zu eine Million Menschen die Straßen. Doch mehr als Hunderttausend Zuschauer in einem Stadion bei einem singulären Sportereignis - das dürfte in Deutschland einzigartig bleiben und Hamburg damit einen ewigen Platz in der Sporthistorie sichern.